Presse- und Informationsabteilung

PRESSEMITTEILUNG NR. 26/2001

Dienstag, 10. Juli 2001

Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger in der Rechtssache C-309/99

    J.C.J. Wouters, J.W. Savelbergh, Price Waterhouse Belastingadviseurs BV/Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten

NACH AUFFASSUNG DES GENERALANWALTS KANN EIN VERBOT BESTIMMTER FORMEN DER ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN RECHTSANWÄLTEN UND WIRTSCHAFTSPRÜFERN GERECHTFERTIGT SEIN


Nach Ansicht von Generalanwalt Léger können berufsständische Vertretungen als Unternehmensvereinigungen dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft unterliegen. Eine Verordnung der niederländischen Rechtsanwaltskammer, die gemischte Sozietäten von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern verbietet, bewirkt in seinen Augen eine Wettbewerbsbeschränkung, die jedoch durch die besondere Aufgabe der Rechtsanwälte gerechtfertigt ist. Die Übertragung von Regelungsbefugnissen an berufsständische Vertretungen müsse außerdem verschiedene Voraussetzung erfüllen, um gemeinschaftsrechtskonform zu sein.

Die Kläger Wouters und Savelbergh sind in Amsterdam und Rotterdam als Rechtsanwälte zugelassen. Sie teilten den für sie zuständigen Rechtsanwaltskammern mit, dass sie beabsichtigten, eine Zusammenarbeit mit den in den Niederlanden ansässigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften Arthur Andersen und Price Waterhouse zu begründen.

Die Vorstände der Rechtsanwaltskammern wiesen diese Anträge zurück. Sie stützten sich dabei auf eine Verordnung aus dem Jahr 1993 über die Zusammenarbeit von Rechtsanwälten mit Angehörigen anderer Berufsgruppen. Diese Verordnnung gestattet die Zusammenarbeit mit Berufsgruppen wie Notaren, Steuerberatern oder Patentanwälten. Um die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte zu gewährleisten, wird diesen jedoch die Begründung gemischter Sozietäten mit Wirtschaftsprüfern ausdrücklich verboten.

Die beiden Rechtsanwälte und die betroffenen Gesellschaften erhoben Verwaltungsbeschwerden bei der nationalen niederländischen Rechtsanwaltskammer. Als diese zurückgewiesen wurden, klagten sie vor den zuständigen niederländischen Gerichten.

Der Raad van State, der in letzter Instanz über den Rechtsstreit zu entscheiden hat, hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen zur Anwendung des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft auf freie Berufe vorgelegt.


Text Box

Der Generalanwalt stellt heute seine Schlussanträge, die für den Gerichtshof nicht bindend sind. Aufgabe der Generalanwälte ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten.
Generalanwalt Léger ist der Auffassung, dass die nationale niederländische Rechtsanwaltskammer als berufsständische Vertretung eine Unternehmensvereinigung im Sinne des EG-Vertrags sei.

Die Kammer bestehe nämlich ausschließlich aus Vertretern des Berufes und sei nicht gesetzlich verpflichtet, ihre Entscheidungen im Allgemeininteresse zu treffen. Aus diesem Grund sei sie bei ihrer gesamten Tätigkeit als Unternehmensvereinigung anzusehen. Das gelte auch für den Erlass von Verordnungen, mit denen bestimmte Formen der beruflichen Zusammenarbeit verboten würden.

Das Sozietätsverbot hat nach Ansicht von Generalanwalt Léger wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen. Die Anwendung der Verordnung führe zu einer Beschränkung des Wettbewerbs auf dem niederländischen Markt für juristische Dienstleistungen. Sie nehme den Auftraggebern die Möglichkeit, von einer Kanzlei integrierte Dienstleistungen, nämlich ein breites Leistungsspektrum, zu erhalten.

Angesichts der Stellung der beiden betroffenen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auf dem niederländischen Markt führe die Verordnung, die für sämtliche Rechtsanwälte gelte, zu einer spürbaren Beschränkung des Wettbewerbs. Da auch Kanzleien aus anderen Mitgliedstaaten von ihren Auswirkungen betroffen seien, könne die Verordnung zudem den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

Der Generalanwalt ist jedoch der Auffassung, dass die Rechtsanwälte mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind. Weil ihre Tätigkeit (rechtliche Beratung und Vertretung der Bürger) im Rechtsstaat wesentliche Bedeutung habe, seien die Rechtsanwälte in den Niederlanden durch Hoheitsakt mit einer besonderen Aufgabe betraut.

Sollte die Anwendung der Wettbewerbsregeln zur Zulässigkeit gemischter Sozietäten führen, so wären nach Ansicht des Generalanwalts die wesentlichen Grundpflichten des Rechtsanwaltsberufs - Unabhängigkeit, Wahrung des Berufsgeheimnisses und Vermeidung von Interessenkonflikten - beeinträchtigt. Der Generalanwalt sieht eine gewisse Unvereinbarkeit zwischen der Beratungstätigkeit des Rechtsanwalts und der Prüfungstätigkeit des Wirtschaftsprüfers. Das Wesen des Anwaltsberufs könne der Begründung einer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft mit Angehörigen der Berufsgruppe der Wirtschaftsprüfer entgegenstehen.

Die sich aus der niederländischen Regelung ergebende Wettbewerbsbeschränkung erscheint dem Generalanwalt daher gerechtfertigt, zumal es den Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern nicht verboten sei, Mandanten aus anderen Mitgliedstaaten ihre Leistungen unabhängig voneinander anzubieten. Mit der Regelung sei die den Wettbewerb am wenigsten belastende Lösung gewählt worden (andere Formen der Zusammenarbeit zwischen den beiden Berufsgruppen blieben nach wie vor möglich).

Es sei erforderlich, Kriterien aufzustellen, mit denen ein Ausgleich hergestellt werden könne zwischen der Notwendigkeit einer gewissen Selbstregulierungsbefugnis der freien Berufe und dem Erfordernis der Vermeidung möglicher wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen, die mit einer solchen Befugnis verbunden seien. Ein Mitgliedstaat könne dabei einer berufsständischen Vertretung von Rechtsanwälten die Befugnis zum Erlass verbindlicher Maßnahmen einräumen, wenn zwei Bedingungen erfüllt seien:


- Die Behörden müssten sich die Befugnis vorbehalten, den Inhalt der wesentlichen Berufsregeln direkt oder indirekt selbst festzulegen.

- Den Berufsangehörigen müsse ein wirksamer Rechtsbehelf vor den ordentlichen Gerichten zur Verfügung stehen.

Es sei Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob diese beiden Bedingungen erfüllt seien.

N. B.: Generalanwalt Léger stellt heute auch seine Schlussanträge in der Rechtssache C-35/99 (Strafverfahren gegen Manuele Arduino).


Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, französischer, italienischer, niederländischer und spanischer Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unser Homepage im Internet www.curia.eu.int 

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou
Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.