Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG N. 30/01

12. Juli 2001

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-262/99

Paraskevas Louloudakis / Elliniko Dimosio


DER GERICHTSHOF PRÄZISIERT DEN BEGRIFF DES GEWÖHNLICHEN WOHNSITZES IM     RAHMEN DER VORÜBERGEHENDEN EINFUHR VON STRASSENKRAFTFAHRZEUGEN

                        
Das vorlegende Gericht muss prüfen, ob auf der Grundlage von feststehenden Kriterien bestimmte     pauschale Geldbußen und eine erhöhte Abgabe, die bis zum Zehnfachen der nicht gezahlten Abgaben     geht, nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen.

                        
Der 1956 in Chania (Kreta) geborene Paraskevas Louloudakis (im Folgenden: Kläger) besitzt die griechische und die italienische Staatsangehörigkeit. 1974 zog er nach Italien um. Er besitzt eine Ausbildung als Architekt und hat zusammen mit seiner Ehefrau, einer italienischen Staatsangehörigen, in Italien eine Gesellschaft, die im Immobiliensektor und im Handel mit Olivenöl tätig ist, sowie in Kreta eine andere Gesellschaft gegründet, deren Gegenstand die Verpackung von und der Handel mit Ölen und Fetten ist. Er gibt zusammen mit seiner Ehefrau Steuererklärungen in Italien und in Griechenland ab. Er ist Inhaber von zwei Führerscheinen, eines italienischen und eines griechischen. Er hat eine Wohnung in Griechenland und besitzt auch ein Haus in Italien. Er war in Italien in den Wählerverzeichnissen eingetragen. Seine Kinder haben eine griechische Schule besucht, um Griechisch zu lernen. Sie sollen aber auch eine Schule in Florenz besucht haben.

1995 wurde ein in Italien zugelassener Lieferwagen, der der italienischen Gesellschaft des Klägers gehört, im Hafen von Heraklion kontrolliert. Dieser Lieferwagen wurde in der Folge als Schmuggelware zusammen mit vier anderen in Italien zugelassenen Fahrzeugen, die derselben Gesellschaft gehören, beschlagnahmt.

Die Zollverwaltung war der Auffassung, dass der Kläger seinen gewöhnlichen Wohnsitz in Griechenland habe, und setzte daraufhin gegen ihn folgende Sanktionen fest:

-    eine erhöhte Abgabe in Höhe von 72 216 960 GRD wegen vorsätzlicher Nichtzahlung der geschuldeten Abgaben;

-    eine Geldbuße in Höhe von 100 000 GRD (für jedes der drei Fahrzeuge) wegen unterlassener Anmeldung beim Eintritt ins griechische Hoheitsgebiet;

-    eine Geldbuße in Höhe von insgesamt 11 000 000 GRD wegen Besitzes und Benutzung der Fahrzeuge ohne Anspruch auf eine vorübergehende Abgabenbefreiung.

Das Verwaltungsgericht Heraklion, das der Kläger mit dem Antrag angerufen hat, den Bescheid der Zollverwaltung aufzuheben, hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen nach der Auslegung des Begriffs des "gewöhnlichen Wohnsitzes", wenn eine Person sowohl persönliche als auch berufliche Bindungen in zwei Mitgliedstaaten hat, sowie nach der Vereinbarkeit der gesamten nach griechischem Recht vorgesehenen Sanktionen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Der Gerichtshof hat die Richtlinie des Rates über Steuerbefreiungen innerhalb der Gemeinschaft bei vorübergehender Einfuhr bestimmter Verkehrsmittel auszulegen. Nach dieser Richtlinie sind Personenfahrzeuge, die vorübergehend (für einen Höchstzeitraum von 6 Monaten pro Jahr) zur privaten Nutzung eingeführt werden, von Abgaben befreit, sofern die Person, die das Fahrzeug einführt, ihren gewöhnlichen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Ziel der Richtlinie darin besteht, die Ausübung der Freizügigkeit der gebietsansässigen Personen innerhalb der Gemeinschaft zu fördern.

Der Ort des gewöhnlichen Wohnsitzes

Die Richtlinie sieht einen Fall wie denjenigen des Klägers, in dem sowohl persönliche als auch berufliche Bindungen in zwei Mitgliedstaaten bestehen, nicht ausdrücklich vor. Sie definiert als "gewöhnlichen Wohnsitz" den Ort, an dem eine Person gewöhnlich, d. h. während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr, wegen persönlicher und beruflicher Bindungen wohnt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass dieselbe Person während des restlichen Kalenderjahres ebenfalls wegen persönlicher und beruflicher Bindungen an einem anderen Ort wohnt.

Verfügt eine Person über persönliche und berufliche Bindungen in zwei Mitgliedstaaten, so wird der Ort ihres gewöhnlichen Wohnsitzes auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller erheblichen Tatsachen bestimmt und entspricht dem Ort, an dem sich der ständige Mittelpunkt ihrer Interessen befindet. Man kann sich somit auf die körperliche Anwesenheit der Person und ihrer Familienangehörigen, die Einrichtung einer Wohnung, den Ort des tatsächlichen Schulbesuchs der Kinder, den Ort der Ausübung der beruflichen Tätigkeiten, den Ort, an dem die Vermögensinteressen liegen, und den Ort, an dem verwaltungsmäßige Beziehungen zu den staatlichen Stellen bestehen, stützen. Lässt diese Gesamtwürdigung eine solche Ortsbestimmung nicht zu, so ist den persönlichen Bindungen der Vorrang einzuräumen.

Die festgesetzten Abgaben und Geldbußen

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass eine im Rahmen der Regelung über die vorübergehende Einfuhr verhängte Sanktion nur dann im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht steht, wenn die Abgaben, die die Berechnungsgrundlage für diese Sanktion darstellen, ihrerseits dem Gemeinschaftsrecht entsprechen. Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob dies der Fall ist, und zwar insbesondere anhand des Urteils Kommission/Griechenland von 19971.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Der Gerichtshof stellt schließlich fest, dass die Mitgliedstaaten mangels einer gemeinschaftlichen Harmonisierung der Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Sanktionen, die in Fällen wie demjenigen des Klägers anwendbar sind, die Sanktionen wählen können, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die verfolgten Ziele zu beachten, ohne Hindernisse für die Ausübung der im Vertrag verankerten Freiheiten zu schaffen.

Dabei können pauschal (nach dem Kriterium des Hubraums ohne Berücksichtigung des Alters des Fahrzeugs) bestimmte Sanktionen und eine erhöhte Abgabe, die bis zum Zehnfachen der fälligen Abgaben gehen kann, unverhältnismäßig sein und ein Hindernis für die Ausübung der Freizügigkeit der Gebietsansässigen innerhalb der Gemeinschaft darstellen. Das vorlegende Gericht hat unter Berücksichtigung der zwingenden Erfordernisse der Strafverfolgung und der Vorbeugung zu beurteilen, ob derartige Sanktionen nicht unverhältnismäßig sind.


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das den Gerichtshof nicht bindet.

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Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int 

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou,
Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.

 

1 -     Urteil vom 23. Oktober 1997 in der Rechtssache C-375/95, Slg. 1997, I-5981.