Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG N. 38/01

13. September 2001

Schlussanträge von Generalanwältin Christine Stix-Hackl in der Rechtssache C-459/99

Mouvement contre le racisme, l'antisémitisme et la xénophobie ASBL [MRAX] / Belgischen Staat

DIE GENERALANWÄLTIN PRÜFT DIE BEFUGNIS EINES MITGLIEDSTAATS, BESTIMMTE EINREISENDE AN DER GRENZE ZURÜCKZUWEISEN, IHNEN NACH EINREISE DIE AUFENTHALTSERLAUBNIS ZU VERSAGEN ODER SIE AUSZUWEISEN

Es geht um Drittstaatsangehörige, die mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet sind und in dessen Mitgliedstaat wohnen wollen.


Seit 1980 regelt ein belgisches Gesetz für bestimmte Ausländergruppen den Zugang zum belgischen Hoheitsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung. Eine Durchführungsverordnung klärt Aufenthaltsrecht und Aufenthaltserlaubnis. 1997 erging dazu ein ministerieller Runderlass.

Die ASBL Mouvement contre le racisme, l'antisémitisme et la xénophobie (= Bewegung gegen Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit) hat beim belgischen Staatsrat (Conseil d'Etat) in dessen Funktion als Gericht eine Klage auf Nichtigerklärung eines Teils dieses Runderlasses eingereicht. Die Klägerin meint u.a., dass ein Passus auch gegen Gemeinschaftsrecht verstoße.

Der Staatsrat hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der EG vier Fragen zur Auslegung der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften vorgelegt. Es geht um die aufenthaltsrechtliche Stellung von Drittstaatsangehörigen (d.h. Nicht-EU-Angehörigen), die mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaats der EG verheiratet sind und im Rahmen der Familienzusammenführung in dessen Mitgliedstaat (hier Belgien) ziehen wollen.

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Generalanwältin Stix-Hackl trägt heute ihre Schlussanträge in dieser Rechtssache vor.

Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe der Generalanwälte ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung für die Rechtssache vorzuschlagen, mit der sie befasst sind.  

Die Generalanwältin betont zunächst, dass nach dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts sich die Rechtslage drittstaatsangehöriger Familienmitglieder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der in seinem Mitgliedstaat wohnt und sein gemeinschaftliches Rechts auf Personenfreizügigkeit nicht ausgeübt hat, ausschließlich nach den nationalen Rechtsvorschriften (hier belgischen) über die Familienzusammenführung bestimmt. Dagegen können drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern eines Unionsbürgers, der von seinen gemeinschaftlichen Rechten Gebrauch macht, bestimmte Gemeinschaftsvorschriften zugute kommen.

1. Zurückweisung an der Grenze - Zuerst fragt das belgische Gericht, ob die Mitgliedstaaten der EG nach Gemeinschaftsrecht an der Grenze visumpflichtige drittstaatsangehörige Ehegatten von Bürgern der Gemeinschaft zurückweisen können, die versuchen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen, ohne über einen Ausweis oder ein Visum zu verfügen.

Die Generalanwältin legt dar, dass nach den Gemeinschaftsrichtlinien 68/360 und 73/148 die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bei Vorlage eines gültigen Reisepasses oder Personalausweises Familienangehörigen die Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu gestatten; von drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern darf ein Visum verlangt werden.

Die Zurückweisung an der Grenze bei Fehlen von Ausweis oder Visum ist im Gemeinschaftsrecht nicht ausdrücklich geregelt, kann aber für die Generalanwältin als mögliche (nicht automatische) Reaktion des Staats daraus folgen, für die Erfüllung der Einreisevoraussetzungen zu sorgen.

Allerdings greift der Mitgliedstaat durch eine Zurückweisung an der Grenze in das gemeinschaftliche Grundrecht der Ehegatten auf Achtung ihres Familienlebens ein. Ein solcher Eingriff ist unter bestimmten Voraussetzungen zwar zulässig, das nationale Gericht muß im jeweiligen Einzelfall aber u. a. die Notwendigkeit des Eingriffs und dabei dessen Verhältnismäßigkeit (d.h. Abwägung der privaten mit den öffentlichen Interessen) prüfen. Der Gerichtshof kann ihm dazu nur allgemeine Kriterien an die Hand geben.


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Die Generalanwältin meint, dass die Mitgliedstaaten an der Grenze visumpflichtige drittstaatsangehörige Ehegatten von Bürgern der Gemeinschaft, die versuchen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen, ohne über einen Ausweis oder ein Visum zu verfügen, nur dann zurückweisen können, wenn das mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens und insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vereinbar ist.

2. Nicht ordnungsgemäße Einreise - Mit seiner 2. Frage möchte das belgische Gericht wissen, ob die Mitgliedstaaten nach Gemeinschaftsrecht dem nicht ordnungsgemäß in ihr Hoheitsgebiet eingereisten drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers die Aufenthaltserlaubnis versagen und ihn aus dem Hoheitsgebiet entfernen können.

Die Generalanwältin weist darauf hin, dass nach den erwähnten Gemeinschaftsrichtlinien ein Mitgliedstaat einem drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers eine Aufenthaltserlaubnis erteilen muß, wenn er bestimmte Dokumente vorgelegt hat. Die Versagung der Aufenthaltserlaubnis wegen rechtswidriger Einreise ist dort nicht erwähnt. So sieht die Generalanwältin in einer solchen Versagung “eine Maßnahme der öffentlichen Ordnung”. Für solche Maßnahmen darf nach der Gemeinschaftsrichtlinie 64/221 “ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein”. Eine generell-abstrakte nationale Regelung, wie hier der belgische Runderlass, die eine Prüfung des Einzelfalles nicht verpflichtend gewährleistet, z. B. indem sie generell die Versagung der Aufenthaltserlaubnis bei rechtswidriger Einreise vorschreibt, ist daher nach Ansicht der Generalanwältin unzulässig.

Dieselbe Argumentation gilt, so die Generalanwältin, für die vom belgischen Runderlass generell vorgeschriebene Sanktion der Entfernung aus dem Hoheitsgebiet. Dagegen hält die Generalanwältin andere Sanktionen wie Geld- und Haftstrafen für grundsätzlich zulässig, soweit sie verhältnismäßig sind.

Die Generalanwältin ist der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten dem nicht ordnungsgemäß in ihr Hoheitsgebiet eingereisten drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers nur dann die Aufenthaltserlaubnis versagen und ihn ausweisen können, wenn das mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, und insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vereinbar ist.

        3. Ordnungsgemäße Einreise, Ablauf des Visums - Die 3. Frage des belgischen Gerichts geht dahin, ob nach den Gemeinschaftsvorschriften die Mitgliedstaaten dem ordnungsgemäß in das Inland eingereisten drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers, dessen Visum zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, diese Erlaubnis versagen und ihn ausweisen dürfen.


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Wie bereits erwähnt, muss der Mitgliedstaat dem drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, wenn er bestimmte Dokumente vorgelegt hat. Dabei erwähnen die Gemeinschaftsvorschriften nicht das Visum. Daraus schließt die Generalanwältin, dass die Aufenthaltserlaubnis im Fall der ordnungsgemäßen Einreise nicht allein deswegen verweigert werden darf, weil das Visum abgelaufen ist.

Die Generalanwältin meint daher, dass die Mitgliedstaaten dem ordnungsgemäß eingereisten drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers, dessen Visum zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, deshalb diese Erlaubnis weder versagen noch ihn ausweisen dürfen.

4. Rechtsschutz - Zur Frage des Rechtsschutzes hinsichtlich eines Antragsrechts der betroffenen drittstaatsangehörigen Ehegatten betont die Generalanwältin, die Mitgliedstaaten müßten so vorgehen, dass die Geltendmachung der durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte nicht übermäßig erschwert oder praktisch unmöglich gemacht wird.



Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument,
das den Gerichtshof nicht bindet.

Dieses Dokument liegt in englischer, französischer und deutscher Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int 

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.