PRESSEMITTEILUNG N. 38/01
13. September 2001
Schlussanträge von Generalanwältin Christine Stix-Hackl in der Rechtssache C-459/99
Mouvement contre le racisme, l'antisémitisme et la xénophobie ASBL [MRAX] / Belgischen
Staat
DIE GENERALANWÄLTIN PRÜFT DIE BEFUGNIS EINES MITGLIEDSTAATS,
BESTIMMTE EINREISENDE AN DER GRENZE ZURÜCKZUWEISEN, IHNEN
NACH EINREISE DIE AUFENTHALTSERLAUBNIS ZU VERSAGEN ODER SIE
AUSZUWEISEN
Es geht um Drittstaatsangehörige, die mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats
verheiratet sind und in dessen Mitgliedstaat wohnen wollen.
Die ASBL Mouvement contre le racisme, l'antisémitisme et la xénophobie (= Bewegung gegen
Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit) hat beim belgischen Staatsrat (Conseil
d'Etat) in dessen Funktion als Gericht eine Klage auf Nichtigerklärung eines Teils dieses
Runderlasses eingereicht. Die Klägerin meint u.a., dass ein Passus auch gegen
Gemeinschaftsrecht verstoße.
Der Staatsrat hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der EG vier Fragen zur
Auslegung der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften vorgelegt. Es geht um die
aufenthaltsrechtliche Stellung von Drittstaatsangehörigen (d.h. Nicht-EU-Angehörigen), die mit
einem Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaats der EG verheiratet sind und im Rahmen der
Familienzusammenführung in dessen Mitgliedstaat (hier Belgien) ziehen wollen.
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Generalanwältin Stix-Hackl trägt heute ihre Schlussanträge in dieser Rechtssache vor.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe der
Generalanwälte ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche
Lösung für die Rechtssache vorzuschlagen, mit der sie befasst sind.
Die Generalanwältin betont zunächst, dass nach dem gegenwärtigen Stand des
Gemeinschaftsrechts sich die Rechtslage drittstaatsangehöriger Familienmitglieder eines
Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der in seinem Mitgliedstaat wohnt und sein
gemeinschaftliches Rechts auf Personenfreizügigkeit nicht ausgeübt hat, ausschließlich
nach den nationalen Rechtsvorschriften (hier belgischen) über die
Familienzusammenführung bestimmt. Dagegen können drittstaatsangehörigen
Familienmitgliedern eines Unionsbürgers, der von seinen gemeinschaftlichen Rechten
Gebrauch macht, bestimmte Gemeinschaftsvorschriften zugute kommen.
1. Zurückweisung an der Grenze - Zuerst fragt das belgische Gericht, ob die Mitgliedstaaten
der EG nach Gemeinschaftsrecht an der Grenze visumpflichtige drittstaatsangehörige Ehegatten
von Bürgern der Gemeinschaft zurückweisen können, die versuchen, in das Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats einzureisen, ohne über einen Ausweis oder ein Visum zu verfügen.
Die Generalanwältin legt dar, dass nach den Gemeinschaftsrichtlinien 68/360 und 73/148 die
Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bei Vorlage eines gültigen Reisepasses oder
Personalausweises Familienangehörigen die Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu gestatten; von
drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern darf ein Visum verlangt werden.
Die Zurückweisung an der Grenze bei Fehlen von Ausweis oder Visum ist im
Gemeinschaftsrecht nicht ausdrücklich geregelt, kann aber für die Generalanwältin als mögliche
(nicht automatische) Reaktion des Staats daraus folgen, für die Erfüllung der
Einreisevoraussetzungen zu sorgen.
Allerdings greift der Mitgliedstaat durch eine Zurückweisung an der Grenze in das
gemeinschaftliche Grundrecht der Ehegatten auf Achtung ihres Familienlebens ein. Ein solcher
Eingriff ist unter bestimmten Voraussetzungen zwar zulässig, das nationale Gericht muß im
jeweiligen Einzelfall aber u. a. die Notwendigkeit des Eingriffs und dabei dessen
Verhältnismäßigkeit (d.h. Abwägung der privaten mit den öffentlichen Interessen) prüfen. Der
Gerichtshof kann ihm dazu nur allgemeine Kriterien an die Hand geben.
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Die Generalanwältin meint, dass die Mitgliedstaaten an der Grenze visumpflichtige
drittstaatsangehörige Ehegatten von Bürgern der Gemeinschaft, die versuchen, in das
Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen, ohne über einen Ausweis oder ein Visum zu
verfügen, nur dann zurückweisen können, wenn das mit dem Recht auf Achtung des
Familienlebens und insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vereinbar
ist.
2. Nicht ordnungsgemäße Einreise - Mit seiner 2. Frage möchte das belgische Gericht wissen,
ob die Mitgliedstaaten nach Gemeinschaftsrecht dem nicht ordnungsgemäß in ihr Hoheitsgebiet
eingereisten drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers die
Aufenthaltserlaubnis versagen und ihn aus dem Hoheitsgebiet entfernen können.
Die Generalanwältin weist darauf hin, dass nach den erwähnten Gemeinschaftsrichtlinien ein
Mitgliedstaat einem drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers eine
Aufenthaltserlaubnis erteilen muß, wenn er bestimmte Dokumente vorgelegt hat. Die Versagung
der Aufenthaltserlaubnis wegen rechtswidriger Einreise ist dort nicht erwähnt. So sieht die
Generalanwältin in einer solchen Versagung eine Maßnahme der öffentlichen Ordnung. Für
solche Maßnahmen darf nach der Gemeinschaftsrichtlinie 64/221 ausschließlich das
persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein. Eine
generell-abstrakte nationale Regelung, wie hier der belgische Runderlass, die eine Prüfung des
Einzelfalles nicht verpflichtend gewährleistet, z. B. indem sie generell die Versagung der
Aufenthaltserlaubnis bei rechtswidriger Einreise vorschreibt, ist daher nach Ansicht der
Generalanwältin unzulässig.
Dieselbe Argumentation gilt, so die Generalanwältin, für die vom belgischen Runderlass generell
vorgeschriebene Sanktion der Entfernung aus dem Hoheitsgebiet. Dagegen hält die
Generalanwältin andere Sanktionen wie Geld- und Haftstrafen für grundsätzlich zulässig, soweit
sie verhältnismäßig sind.
Die Generalanwältin ist der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten dem nicht ordnungsgemäß
in ihr Hoheitsgebiet eingereisten drittstaatsangehörigen Ehegatten eines
Gemeinschaftsbürgers nur dann die Aufenthaltserlaubnis versagen und ihn ausweisen
können, wenn das mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, und insbesondere mit
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vereinbar ist.
3. Ordnungsgemäße Einreise, Ablauf des Visums - Die 3. Frage des belgischen Gerichts geht
dahin, ob nach den Gemeinschaftsvorschriften die Mitgliedstaaten dem ordnungsgemäß in das
Inland eingereisten drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers, dessen Visum
zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, diese Erlaubnis
versagen und ihn ausweisen dürfen.
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Wie bereits erwähnt, muss der Mitgliedstaat dem drittstaatsangehörigen Ehegatten eines
Unionsbürgers eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, wenn er bestimmte Dokumente vorgelegt hat.
Dabei erwähnen die Gemeinschaftsvorschriften nicht das Visum. Daraus schließt die
Generalanwältin, dass die Aufenthaltserlaubnis im Fall der ordnungsgemäßen Einreise nicht
allein deswegen verweigert werden darf, weil das Visum abgelaufen ist.
Die Generalanwältin meint daher, dass die Mitgliedstaaten dem ordnungsgemäß
eingereisten drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Gemeinschaftsbürgers, dessen Visum
zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, deshalb diese
Erlaubnis weder versagen noch ihn ausweisen dürfen.
4. Rechtsschutz - Zur Frage des Rechtsschutzes hinsichtlich eines Antragsrechts der betroffenen
drittstaatsangehörigen Ehegatten betont die Generalanwältin, die Mitgliedstaaten müßten so
vorgehen, dass die Geltendmachung der durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte nicht
übermäßig erschwert oder praktisch unmöglich gemacht wird.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
Dieses Dokument liegt in englischer, französischer und deutscher Sprache vor.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab
ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int
Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou, Tel.: (0 03 52)
43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34. |