PRESSEMITTEILUNG N. 51/01
STAATENLOSE UND FLÜCHTLINGE KÖNNEN NICHT KRAFT
GEMEINSCHAFTSRECHTS ZAHLUNG VON FAMILIENLEISTUNGEN
BEANSPRUCHEN, WENN SIE UNMITTELBAR AUS EINEM DRITTSTAAT
EINGEREIST SIND UND SICH IN EINER SITUATION BEFINDEN, DIE
KEINERLEI GEMEINSCHAFTSRECHTSBEZUG AUFWEIST
Nach deutschem Recht werden die Eheleute Khalil, die Ehefrau von Herrn Chaaban sowie Herr
Osseili und Herr Nasser als Staatenlose angesehen.
Diesen Personen wurde aufgrund einer Änderung des deutschen Rechts zwischen Dezember
1993 und März 1994 die Bewilligung des Kindergeldes versagt. Zur Begründung ihrer Klagen
gegen diese Bescheide trugen sie vor, dass sie bzw. ihre Ehegatten als Staatenlose anzusehen
seien und daher Familienleistungen erhalten müssten, da das Gemeinschaftsrecht sie Deutschen
und anderen Unionsbürgern gleichstelle. Auf den Besitz bestimmter Aufenthaltstitel komme es
dabei nicht an.
Frau Addou (Rechtssache C-180/99) ist algerische Staatsangehörige; ihr Ehemann und ihre
Kinder besaßen die marokkanische Staatsangehörigkeit. Herr Addou ist später durchEinbürgerung deutscher Staatsbürger geworden, nachdem er die Rechtsstellung als Flüchtling
im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention hatte. Die Eheleute Addou sind 1988 aus Algerien
bzw. Marokko nach Deutschland eingereist, wo sie seitdem ununterbrochen leben. Ihre
Anerkennung als Asylberechtigte wurde abgelehnt, aber sie bekamen im Februar 1994 eine
Aufenthaltsbefugnis und im Mai 1996 eine Aufenthaltserlaubnis.
Frau Addou klagte gegen die Weigerung des Landes Nordrhein-Westfalen, ihr Erziehungsgeld
zu zahlen. Dieser Klage gab das Berufungsgericht statt, da es der Auffassung war, dass es auf den
Besitz eines Aufenthaltstitels nicht ankomme, weil Frau Addou als Familienangehörige eines
anerkannten Flüchtlings nach dem Gemeinschaftsrecht deutschen Staatsangehörigen und anderen
Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gleichzustellen sei.
Die Betroffenen stützen sich auf die Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der
Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien, die Arbeitnehmer, die als Staatenlose oder
Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie deren Familienangehörige und
Hinterbliebene in ihren Geltungsbereich einbezieht. Für den Begriff .Flüchtling verweist die
Gemeinschaftsregelung auf das internationale Abkommen über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge (Genf 1951) und für den Begriff .Staatenloser auf das internationale
Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen (New York 1954).
Das in letzter Instanz angerufene Bundessozialgericht befragt den Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften nach der Gültigkeit und der Auslegung dieser Gemeinschaftsverordnung.
Was die Gültigkeit betrifft, so hat das Bundessozialgericht Zweifel an der Zuständigkeit des
Gemeinschaftsgesetzgebers zur Regelung der Situation der Staatenlosen und Flüchtlinge.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass alle sechs Gründungsmitgliedstaaten 1957 bereits
vertragschließende Parteien der Genfer Konvention von 1951 (Flüchtlinge) und des New Yorker
Übereinkommens von 1954 (Staatenlose) gewesen seien.
Der Gerichtshof verweist ferner darauf, dass der Endzweck der bereits im EWG-Vertrag von
1957 vorgesehenen Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit darin bestehe,
eine möglichst weitgehende Freizügigkeit der Arbeitnehmer sicherzustellen.
Dem Rat könne nicht vorgeworfen werden, dass er Staatenlose und Flüchtlinge, die im Gebiet
der Mitgliedstaaten wohnten, in den Geltungsbereich der Gemeinschaftsverordnung über die
soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familie einbezogen habe, um den
völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen.
Das deutsche Gericht möchte ferner wissen, ob die Arbeitnehmer, die als Staatenlose oder
Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie deren Familienangehörige die von
dieser Gemeinschaftsverordnung gewährten Rechte geltend machen können, wenn sie
unmittelbar aus einem Drittland in diesen Mitgliedstaat eingereist und innerhalb der
Gemeinschaft nicht gewandert sind.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Gemeinschaftsrecht für die Wanderarbeitnehmer
die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und die Zahlung der
Leistungen im Rahmen dieser koordinierten Systeme bezwecke. Die Gemeinschaftsverordnung
über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familie stelle eine Gesamtheit von
Vorschriften auf, die sich auf das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit
oder des Aufenthaltsortes sowie auf die Aufrechterhaltung der Ansprüche gründeten, die der
Arbeitnehmer nach dem System oder den Systemen der sozialen Sicherheit, die für ihn gälten
oder gegolten hätten, erworben habe.
Der Gerichtshof verweist auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach diese Vorschriften nicht
für Sachverhalte gälten, die keinerlei Gemeinschaftsrechtsbezug aufwiesen. DieVergünstigungen, die mit der Eigenschaft eines Arbeitnehmers verbunden seien, der innerhalb
der Europäischen Union gewandert sei, könnten Staatenlosen oder Flüchtlingen, die in einem
Mitgliedstaat wohnten, nicht gewährt werden, wenn sie sich in einer Situation befänden, die mit
keinem Element über die Grenzen dieses Mitgliedstaats hinausweise.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
Dieses Dokument ist in Deutsch, Englisch und Französisch verfügbar.
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