Abteilung Presse und Information


PRESSEMITTEILUNG N. 55/01


25. Oktober 2001

Schlussanträge der Frau Generalanwalt Stix-Hackl in der Rechtssache C-101/00

Tulliasiamies et Antti Siilin


DIE GENERALANWÄLTIN HÄLT DIE FINNISCHEN VORSCHRIFTEN, AUF DEREN GRUNDLAGE BEI DER EINFUHR EINES GEBRAUCHTWAGENS AUS EINEM ANDEREN MITGLIEDSTAAT NACH FINNLAND DIE KFZ-STEUER UND EINE SOGENANNTE MEHRWERTSTEUER BERECHNET WERDEN, FÜR GEMEINSCHAFTSRECHTSWIDRIG.

Nach Ansicht der Generalanwältin führt die finnische Regelung zu einer steuerlichen Diskriminierung von Gebrauchtwagen aus anderen Mitgliedstaaten gegenüber inländischen Gebrauchtwagen.

Herr Siilin kaufte als Privatmann am 2.3.1998 von einem Kraftfahrzeughändler in der Bundes- republik Deutschland ein Personenkraftfahrzeug der Marke Mercedes Benz 190 2.0 Diesel mit Sonderausstattung für 7 350 DM (ca. 3 758 Euro). Das Fahrzeug war am 1.1.1986 gebaut und am 13.11.1986 zugelassen worden. Am 20.4.1998 führte Herr Siilin das Fahrzeug (Kilometerstand 180 000) nach Finnland ein.

Das Bezirkszollamt Helsinki hat den Wert eines gleichartigen neuen Fahrzeuges mit 41 100 DEM angenommen und dem 3 880 DEM für die Sonderausstattung hinzugefügt. Das ergab einen Wert von umgerechnet 136 851 FIM. Davon wurden pauschal 4 600 FIM und für das Alter 85 963 FIM abgezogen. Die Kraftfahrzeugsteuer wurde mit 46 288 FIM (ca. 7 785 Euro) und die darauf entfallende Mehrwertsteuer mit 10 183 FIM (ca. 1 713 Euro) festgesetzt. Nach Auffassung von Herrn Siilin wurde für den Listenpreis ohne Steuer der Verkaufspreis des finnischen Markenimporteurs zugrundegelegt. Herr Siilin hat zwar den gesamten Betrag bezahlt, hält jedoch die finnischen Vorschriften, auf deren Grundlage sowohl die Kfz-Steuer als auch die sog. Mehrwertsteuer berechnet wurde, für gemeinschaftsrechtswidrig und fordert vom Bezirkszollamt Rückerstattung.

Der inzwischen befasste finnische Oberste Verwaltungsgerichtshof hat dem Gerichtshof der EG Fragen zur Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften vorgelegt.

Nach dem schriftlichen Verfahren hat am 12.9.2001 die mündliche Verhandlung stattgefunden. Herr Siilin, die finnische Regierung und die Europäische Kommission haben sich geäußert.

Frau Generalanwalt Christine Stix-Hackl trägt heute ihre Schlussanträge in dieser Rechtssache vor.
    
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe der Generalanwälte ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung für die Rechtssache vorzuschlagen, mit der sie befasst sind.  

Die Generalanwältin gelangt aufgrund ihrer rechtlichen Prüfung zu einer differenzierten Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit von nationalen Vorschriften, wie den finnischen, mit dem Gemeinschaftsrecht.

1. Zu der finnischen Kfz-Steuer-Regelung

Hier ist - so die Generalanwältin - Maßstab Art. 90 EG-Vertrag, der den Mitgliedstaaten verbietet, auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten höhere inländische Abgaben zu erheben, als gleichartige inländische Waren zu tragen haben.

Die Generalanwältin führt aus, dass Artikel 90 EG-Vertrag eine Besteuerungsgrundlage verbietet, die über dem tatsächlichen Wert des Steuergegenstandes liegt. Bei der Besteuerung von Gebrauchtwagen sei daher deren tatsächlicher Wertverlust zu berücksichtigen. Artikel 90 EG-Vertrag diene der Abgabenneutralität zwischen bereits auf dem inländischen Markt befindlichen und eingeführten Waren. Diese Vorschrift stehe Regelungen entgegen, mit der Wettbewerbsvorteile einer eingeführten Ware ausgeschaltet würden.

a) Zollwert als Wert des Gebrauchtwagens
Das finnische Recht verweist hinsichtlich des Wertes des Gebrauchtwagens auf das gemeinschaftliche Zollrecht, d. h. auf die gemeinschaftliche Zollwertregelung des Zollkodex. - Die Generalanwältin legt dar, der Gerichtshof der EG habe bereits geklärt, dass die bloße Verweisung auf die Zollwertverordnung für die Bestimmung des steuerlichen Wertes grundsätzlich nicht gegen den EG-Vertrag verstoße.

b) Bewertung des Steuerwerts des Gebrauchtwagens anhand abstrakter Kriterien
Zunächst führt die Generalanwältin aus, es sei unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlage vom Wert eines Neuwagens auszugehen, so wie das finnische Recht es tue. Als Referenzfahrzeug komme nur ein gleichartiges Fahrzeug in Betracht.

Dann verweist die Generalanwältin auf die bereits getroffene Feststellung des Gerichtshofes, dass Art. 90 EG-Vertrag einer Berechnung anhand allgemeiner und abstrakter Kriterien unter bestimmten Voraussetzungen nicht entgegenstehe. Das gelte etwa für pauschale Tabellen, in denen Kriterien, wie Alter, Kilometerstand, Ausstattung, Zustand, Antriebsart, Fabrikat oder Modell des Fahrzeugs zur Berechnung des Wertes angeführt seien. Ebenso sei die Heranziehung eines Durchschnittspreises zulässig. Voraussetzung bleibe allerdings auch für eine solche - abstrakte - Berechnung des Wertes, dass sie nicht diskriminierend sein dürfe. Der sich aus dieser Berechnung ergebende Steuerbetrag dürfe also nicht höher sein als jener Betrag, der noch im Wert des gleichartigen bereits im Inland zugelassenen Fahrzeugs enthalten sei. Dies zu beurteilen, sei Sache des nationalen Gerichts.

c) Berücksichtigung der Handelsstufe für die Bestimmung des Steuerwertes eines Gebraucht- wagens
Das finnische Gericht hatte darauf hingewiesen, dass nach den nationalen Vorschriften der Steuerwert unterschiedlich hoch ist, je nachdem, auf welcher Handelsebene (Handelsstufe) der Importeur des Fahrzeugs tätig wird, d. h. ob er auf der Großhandels-, Einzelhandels- oder Verbraucherstufe tätig wird. - Die Generalanwältin stellt insofern eine Diskriminierung fest, als die Berücksichtigung der Handelsstufen, wie sich aus den vorgelegten Berechnungen ergebe, grundsätzlich dazu führe, dass der Steuerbetrag für einen Gebrauchtwagenanteilsmäßig gemessen am Wert dieses Wagens höher sei als der Steuerbetrag, der im Wert eines Neuwagens enthalten sei. Würden eingeführte Gebrauchtwagen auch nur in bestimmten Konstellationen höher besteuert als auf dem inländischen Markt befindliche Gebrauchtwagen, wäre das unzulässig.

d) § 7 des finnischen Kfz-Steuergesetzes in der bis zum 14.1.1999 geltenden Fassung:
- Herabsetzung des Steuerwertes erst nach 6 Monaten
- Lineare Herabsetzung des Steuerwertes
Nach § 7 des finnischen Kfz-Steuergesetzes wird die Steuer für ein eingeführtes Gebrauchtfahrzeug wie für ein entsprechendes Neufahrzeug erhoben, wobei die Steuer entsprechend dieser Bestimmung herabgesetzt wird. Dabei sah § 7 bis zum 14.1.1999 vor, dass sich die Steuer für das entsprechende Nutzfahrzeug um 0,5 % für jeden vollen Kalendermonat minderte, gerechnet von dem Zeitpunkt an, zu dem das Fahrzeug sechs Monate zugelassen oder in Gebrauch war. - Die Generalanwältin sieht darin, dass der Wert eines Neuwagens zur Ermittlung des Wertes eines Gebrauchtwagens erst sechs Monate nach Inbetriebnahme oder Zulassung herabgesetzt wird, einen Verstoß gegen Artikel 90 EG-Vertrag, denn es gelte der Grundsatz, dass der reelle Wertverlust entscheidend sei. Was die erwähnte lineare monatliche Herabsetzung um 0,5 % angeht, verweist die Generalanwältin darauf, dass der reelle Wertverlust von Gebrauchtwagen nicht linear verlaufe. Eine dementsprechend starre Regelung müsse daher dem Grundsatz widersprechen, wonach dem reellen Wertverlust Rechnung zu tragen sei. Die Generalanwältin sieht auch hier einen Verstoß gegen Art. 90 EG-Vertrag.

2. Zu der auf die Kfz-Steuer erhobenen sog. Mehrwertsteuer

Zunächst ist Maßstab die 6. MWSt-Richtlinie (77/388/EWG). Die Generalanwältin prüft, ob diese auf die Kfz-Steuer erhobene Steuer eine “Mehrwertsteuer” im Sinne der Gemeinschaftsrichtlinie ist. Anhand der vom Gerichtshof entwickelten Merkmale (Besteuerung des Mehrwerts, allgemeine Anwendbarkeit, Entrichtung auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe usw.) kommt die Generalanwältin zum Ergebnis, dass diese finnische Steuer nicht als “Mehrwertsteuer” im Sinne der Gemeinschaftsrichtlinie angesehen werden könne. Allerdings gestatte Art. 33 der Gemeinschaftsrichtlinie den Mitgliedstaaten die Einführung von “Steuern, Abgaben und Gebühren, denen die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer fehlen”. Danach sei diese finnische Steuer zulässig.
    
Aber die finnische Steuer müsse ebenfalls am erwähnten Artikel 90 EG-Vertrag gemessen werden. Hierzu führt die Generalanwältin aus, da die sogenannte Mehrwertsteuer auf die Kraftfahrzeugsteuer erhoben werde, sei sie im Wesentlichen wie die Kraftfahrzeugsteuer zu beurteilen. Soweit also der Betrag der anlässlich der Zulassung eines eingeführten Gebrauchtwagens auf die Kraftfahrzeugsteuer erhobenen Steuer den Betrag übersteige, der im Wert eines im Inland befindlichen Gebrauchtwagens enthalten sei, sei diese Steuer diskriminierend und verstoße gegen Artikel 90 EG-Vertrag. Die auf die Kraftfahrzeugsteuer erhobene Steuer bewirke dadurch nämlich, dass der Wettbewerbsvorteil eines aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten Gebrauchtwagens gegenüber einem im Inland befindlichen Gebrauchtwagen beseitigt werde.

Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes der EG beginnen nach Verkündung der Schlussanträge des Generalanwalts mit der Beratung des Urteils, das zu einem späteren Zeitpunkt verkündet werden wird.


Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

Dieses Dokument ist in Deutsch, Englisch, Finnisch und Französisch verfügbar.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int .

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou,
Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.