Abteilung Presse und Information


PRESSEMITTEILUNG N. 17/02

26. Februar 2002

Urteil des Gerichts erster Instanz in der Rechtssache T-17/00

Willi Rothley und 70 weitere Abgeordnete des Europäischen Parlaments / Europäisches Parlament


EUROPÄISCHE ABGEORDNETE ERREICHEN NICHT DIE NICHTIGERKLÄRUNG DES BESCHLUSSES DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS, NACH DEM DAS EUROPÄISCHE AMT FÜR BETRUGSBEKÄMPFUNG BEI IHNEN UNTERSUCHUNGEN VORNEHMEN DARF.

Das Gericht erster Instanz weist die Klage als unzulässig ab.

Am 28. April 1999 erließ die Kommission den Beschluss zur Errichtung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung, OLAF. Das OLAF wird mit der Durchführung von Verwaltungsuntersuchungen beauftragt, die zur Bekämpfung von Betrug, Korruption und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften dienen.

Am 25. Mai 1999 erließen das Europäische Parlament und der Rat eine Verordnung über die Untersuchungen des OLAF. Nach dieser Verordnung kann das OLAF u. a. innerhalb der Europäischen Organe Untersuchungen durchführen, wobei die Organe darüber in Kenntnis zu setzen sind, wenn die Bediensteten des OLAF eine Untersuchung in ihren Räumlichkeiten durchführen und wenn sie Dokumente einsehen oder Informationen anfordern, die sich im Besitz der Organe befinden.

Eine Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission sieht vor, dass jedes Organ für sich eine gemeinsame Regelung annimmt, die die erforderlichen Bestimmungen zur Erleichterung eines reibungslosen Ablaufs der Untersuchungen des Amtes bei ihnen enthält.

Am 1. Juni 1999 traten diese Vereinbarung und die Verordnung über die Untersuchungen in Kraft.

Am 18. November 1999 erließ das Parlament einen Beschluss über die Änderung seiner Geschäftsordnung, der die Anwendung der in der Interinstitutionellen Vereinbarung vorgesehenen Regelung ermöglicht.


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Willi Rothley und 70 weitere Abgeordnete des Europäischen Parlaments halten diesen Beschluss für rechtswidrig und beantragen beim Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften seine Nichtigerklärung.

Außerdem hatten sie die Aussetzung seines Vollzugs und den Erlass anderer einstweiliger Anordnungen beantragt, die den Schutz der Mitglieder des Parlaments sicherstellen. Mit Beschluss vom 2. Mai 2000 setzte der Präsident des Gerichts den Vollzug des Beschlusses des Europäischen Parlaments teilweise aus und gab dem Europäischen Parlament bis zur Entscheidung in der Hauptsache auf, den Bediensteten des OLAF nur mit Zustimmung der antragstellenden Abgeordneten Zugang zu deren Räumen zu gewähren (siehe Pressemitteilung Nr. 32/2000).

Die Kläger beantragen, die angefochtene Handlung für nichtig zu erklären, soweit sie die Mitglieder des Europäischen Parlaments betreffe. Das Parlament beantragt, die Klage als unzulässig, hilfsweise, als unbegründet abzuweisen. Das Europäische Parlament wird durch den Rat, die Kommission, die Niederlande und Frankreich unterstützt.

Das Gericht weist die Klage als unzulässig ab.

Nach Artikel 230 EG kann u. a. jede natürliche Person unter bestimmten Voraussetzungen Klage gegen eine Entscheidung erheben, die sie unmittelbar und individuell betrifft.

Das Gericht prüft, ob die angefochtene Handlung eine .Entscheidung“ im Sinne des Artikels 230 EG oder eine generelle Rechtsnorm darstellt.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts stelle eine Handlung keine .Entscheidung“ dar, wenn sie einen objektiven Tatbestand habe und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen erzeuge.

Das Gericht führt aus, mit der angefochtenen Handlung werde allgemein das Ziel verfolgt, die Bedingungen festzulegen, unter denen das Parlament mit dem OLAF kooperiere, um den reibungslosen Ablauf der Untersuchungen zu erleichtern. Entsprechend diesem Ziel befasse sie sich mit der Situation der Mitglieder des Parlaments und enthalte für sie besondere Vorschriften u. a. für den Fall, dass sie in eine Untersuchung des OLAF verwickelt werden oder Kenntnis von Tatsachen erlangen sollten, die mögliche Fälle von Betrug oder schwerwiegende Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Ausübung beruflicher Tätigkeiten vermuten ließen, die eine disziplinarrechtlich oder strafrechtlich zu ahndende Pflichtverletzung darstellen könnten. Die angefochtene Handlung gelte unterschiedslos für diejenigen, die im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens Mitglieder des Parlaments seien, wie für diejenigen, die zu einem späteren Zeitpunkt diese Funktion ausübten. Sie gelte unbefristet, habe einen objektiven Tatbestand und erzeuge Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen.

Demnach sei die angefochtene Handlung eine generelle Rechtsnorm, auch wenn sie als .Beschluss“ bezeichnet werde.

Das Gericht prüft weiter, ob hier Umstände vorliegen, die es ermöglichen, die Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände zu individualisieren.

Es stellt fest, dass die angefochtene Handlung die Kläger ebenso wie jedes andere derzeitige oder künftige Mitglied des Parlaments berühre.



                        
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Die Kläger haben vorgetragen, dass die angefochtene Handlung ihre Unabhängigkeit und die Immunität beeinträchtige, die ihnen nach dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften zustehe. Das Gericht stellt jedoch fest, dass dieses Protokoll keine Vorschrift enthalte, die ausdrücklich die parlamentsinternen Untersuchungen regele, und dass
die angefochtene Handlung bestimme, dass die .Regeln über die parlamentarische Immunität und das Zeugnisverweigerungsrecht des Abgeordneten ... davon unberührt“ blieben.

Die Gefahr, dass das OLAF im Rahmen einer Untersuchung eine Handlung vornehme, die die den Mitgliedern des Parlaments zustehende Immunität beeinträchtige, könne nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. In einem solchen Fall verfüge jedoch ein Mitglied des Parlaments, das von einer Handlung dieser Art betroffen sei und sich dadurch belastet fühle, über den im EG-Vertrag vorgesehenen gerichtlichen Rechtschutz.

Da die Kläger durch die angefochtene Handlung nicht .individuell“ betroffen seien, sei die Klage unzulässig.

Hinweis: Gegen das Urteil des Gerichts kann binnen zwei Monaten nach seiner Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingelegt werden.


Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das das Gericht erster Instanz nicht bindet.

Dieses Dokument liegt in französischer, englischer und deutscher Sprache vor.

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Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou,
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