Abteilung Presse und Information
PRESSEMITTEILUNG N. 60/02
04. Juli 2002
Schlussanträge des Generalanwalts Siegbert Alber in der Rechtssache
C-59/01
Europäische Kommission gegen Italienische Republik
NACH ANSICHT DES GENERALANWALTS WAR IN ITALIEN DAS GESETZLICHE EINFRIEREN
DER VERSICHERUNGSPRÄMIEN IN DER KFZ- HAFTPFLICHT GEMEINSCHAFTSRECHTSWIDRIG.
Das gelte auch für die gesetzlichen Pflichten der Versicherungsunternehmen
zur systematischen Mitteilung der Schadensfälle und zur Mitfinanzierung
des Überwachungssystems.
Durch Gesetz zur Umsetzung der Gemeinschaftsrichtlinie wurden 1995 die Tarife
für Kfz- Haftpflichtversicherungen, die bis dahin in Italien ebenso wie
in den meisten europäischen Ländern einem Preiskontrollsystem unterlagen,
liberalisiert. Die Liberalisierung führte in Italien im Kfz-Haftpflichtsektor
zu einer Verteuerung der Versicherungstarife von bis zu 400 %. Daraufhin erließ
Italien im Jahr 2000 ein Gesetz über Eilmaßnahmen zur Begrenzung
der Inflationsschübe für unterschiedliche Sektoren.
a)
Durch Einfrieren der Versicherungsprämien der Kfz-Haftpflichtversicherungsverträge
sollte zunächst für die Dauer eines Jahres der Inflation entgegengewirkt
werden. Die Regelung galt ohne Unterscheidung sowohl für Versicherungsgesellschaften
mit Sitz in Italien wie auch für solche, die dort über Zweigniederlassungen
oder im Wege des freien Dienstleistungsverkehrs tätig werden.
b)
Zum Zwecke der Betrugsbekämpfung sieht das italienische
Gesetz zudem die Errichtung einer Datenbank vor. Sämtliche Versicherungsunternehmen
wurden verpflichtet, die sich zu ihren Lasten ereigneten Schadensfälle
systematisch mitzuteilen sowie zur Finanzierung der Datenbank beizutragen.
Die Europäische Kommission sieht darin Verstöße gegen die Gemeinschaftsrichtlinie
über die Direktversicherung und hat deshalb Italien vor dem Gerichtshof
der EG verklagt. Das Einfrieren der Tarife ist inzwischen außer Kraft getreten,
aber die Kommission hielt ausdrücklich an ihrer Klage fest, um gegen vergleichbare
Regelungen in Italien sowie in anderen Mitgliedstaaten eine Handhabe zu haben.
Generalanwalt Siegbert Alber trägt heute seine Schlussanträge vor.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Seine Aufgabe ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung für die Rechtssachen vorzuschlagen, mit denen er befasst ist. |
Der Generalanwalt hält die Vorwürfe der Kommission gegenüber
Italien für berechtigt.
1) Zum Vorwurf der Verletzung der Tariffreiheit durch das Einfrieren der
Tarife
Der Generalanwalt weist darauf hin, dass die Gemeinschaftsrichtlinie
die vorherige Genehmigung bzw. das Erfordernis einer systematischen Übermittlung
der Tarife als Voraussetzung für die Betätigungsfreiheit eines Versicherungsunternehmens
verbiete. Zulässig seien allein das Erfordernis der vorherigen Mitteilung
oder die Genehmigung der vorgeschlagenen Tarifanhebung als Elemente eines allgemeinen
Preiskontrollsystems. Das absolute Verbot von Tarifanhebungen auf einem bestimmten
Sektor für einen bestimmten Zeitraum stehe daher im Widerspruch zur Richtlinie.
Die italienischen Regelungen zur Blockade der Versicherungstarife
stellten sich für die im Versicherungsbereich tätigen Unternehmen
als Maßnahmen dar, die die Freiheit der Tarifgestaltung beschränkten.
Italien beruft sich zur Rechtfertigung darauf, dass die Maßnahmen
Teil eines allgemeinen Preiskontrollsystems seien. Auch andere
Maßnahmen wie zum Beispiel fiskalische Maßnahmen für die Erdölwirtschaft
sowie Anweisungen für öffentliche Dienstleistungen wurden erlassen.
Nach Ansicht des Generalanwalts handelt es sich aber um punktuelle Maßnahmen,
die zwar zeitlich begrenzt, jedoch stark reglementierend für nur
einen spezifischen Wirtschaftssektor, nämlich den der Kfz-Haftpflichtversicherung,
erlassen wurden. Die für die Allgemeinheit des Preiskontrollsystems
notwendige Kohärenz der Maßnahmen sei hier zu vermissen. Somit
handele es sich bei den kritisierten Maßnahmen nicht um einen Bestandteil
eines allgemeinen Preiskontrollsystems im Sinne der Gemeinschaftsrichtlinie.
Italien beruft sich zur Rechtfertigung der Beschränkung ferner auf
Inflationsbekämpfung. Der Generalanwalt führt aus, die italienische
Regierung habe nach Inkrafttreten der Gemeinschaftsrichtlinie nicht mehr die
Freiheit, einseitig auf die Gestaltung der Versicherungstarife Einfluss zu nehmen.
Italien macht schließlich geltend, die Maßnahmen seien angesichts
des plötzlichen und ganz beträchtlichen Anstiegs der Versicherungsprämien
(bis zu 400 %) im Interesse des Verbraucherschutzes notwendig gewesen.
Der Generalanwalt erläutert, da die in der Gemeinschaftsrichtlinie konzipierte
Tariffreiheit nicht als eine Mindestvoraussetzung zu betrachten sei, sei kein
Raum dafür, dass der Mitgliedstaat gegebenenfalls per Rechtsvorschrift
ein weitergehendes Schutzniveau vorsehen könne. So rechtfertige auch
der Verbraucherschutz nicht das absolute Verbot der Tarifanhebungen.
Der Generalanwalt sieht keine Rechtfertigung.
2) Zum Vorwurf, unberechtigt Daten zu erheben
Der Generalanwalt legt dar, nach der Richtlinie bestehe im Falle grenzüberschreitender
Betätigung eines Versicherungsunternehmens für dieses eine Mitteilungspflicht
nur gegenüber der zuständige Behörde seines Herkunftsstaats.
Diese teile dem Tätigkeitsstaat auf Antrag die notwendigen Informationen
mit. Direkte Auskunftspflichten der Versicherungsunternehmen gegenüber
den zuständigen Behörden des Tätigkeitsstaats bestünden
nach der Richtlinie nicht. Diese untersage einem Mitgliedstaat vielmehr, eine
systematische Unterrichtung der Bedingungen
und sonstigen Dokumente zu fordern, die ein Unternehmen im Wirtschaftsverkehr
verwenden wolle. Folglich verstießen die nach italienischem Recht
bestehenden Mitteilungspflichten der Versicherungsunternehmen gegen die
Richtlinie.
Italien beruft sich zur Rechtfertigung auf den Gesetzeszweck der Betrugsbekämpfung.
Nach Ansicht des Generalanwalts ist aber ein erneutes Auskunftsverlangen der
mitgliedstaatlichen Behörden des Tätigkeitsstaats eine Behinderung
der Wirtschaftstätigkeit und stelle sich nicht als eine Erhöhung
des Schutzniveaus der Verbraucher dar.
Die zusätzliche verpflichtende finanzielle Beteiligung an der Errichtung
eines Systems, dessen Aufgabe die Informationsbeschaffung über Vorgänge
sei, die jedenfalls im Hinblick auf Unternehmen, die sich im Rahmen der Niederlassungsfreiheit
bzw. der Dienstleistungsfreiheit in diesem Mitgliedstaat betätigten, bereits
im Behördenverkehr erlangt werden könnten, sei daher als eine
weitere ungerechtfertigte Beschränkung dieser Grundfreiheiten zu betrachten.
Zur Verwendung durch die
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und italienischer Sprache vor. Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren
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Phalippou |