PRESSEMITTEILUNG N. 70/02
Zum zweiten Mal hat der Gerichtshof über eine EG-Richtlinie zu entscheiden,
die den Tabakkonsum eindämmen soll. Nachdem der Gerichtshof am 5. Oktober
2000 die Richtlinie über Tabakwerbung für nichtig erklärt hat1,
geht es nun um die Richtlinie 2001/37/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates, die neue Anforderungen an die Zusammensetzung und Kennzeichnung von
Zigaretten stellt. Was die Zusammensetzung angeht, so wird der Höchstgehalt
für Teer herabgesetzt, und zugleich werden zum ersten Mal Höchstgehalte
für Nikotin und Kohlenmonoxid auf EG-Ebene festgesetzt. Was die Kennzeichnung
anbelangt, so geht es im Wesentlichen um zwei Verpflichtungen: die Warnungen,
die auf den Packungen anzubringen sind, werden eindringlicher und müssen
einen größeren Teil der Packungen einnehmen; außerdem wird die
Verwendung von so genannten Zeichen wie .leicht und .mild verboten.
Diese Zeichen können den Verbraucher zu der Annahme verleiten, dass ein
bestimmtes Tabakerzeugnis weniger schädlich sei als andere.
Ein wichtiger neuer Gesichtspunkt der Richtlinie ist der, dass die Anforderungen
an die Zusammensetzung nicht nur für Tabakerzeugnisse gelten, die in der
EU selbst in den Handel gebracht werden, sondern auch für Tabakerzeugnisse,
die in Drittländer ausgeführt werden. Die Richtlinie ist bis zum 30.
September 2002 in das nationale Recht der Mitgliedstaaten umzusetzen. Das die
Zeichen betreffende Verbot ist noch um ein Jahr aufgeschoben.
Am 3. September 2001 haben die international tätigen britischen Hersteller
von Tabakerzeugnissen British American Tobacco Limited und Imperial Tobacco
Limited ein Verfahren vor dem High Court of Justice angestrengt, in dem sie
sich gegen die Umsetzung und/oder die Pflicht der Regierung des Vereinigten
Königreichs zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht wenden.
Der High Court of Justice hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
im Dezember 2001 um Vorabentscheidung über die Gültigkeit der Richtlinie
ersucht2. Dabei geht es im Wesentlichen um folgende Fragen:
- Kann eine Regelung auf das Gemeinschaftsrecht zur Harmonisierung
des Binnenmarktes gestützt werden, wenn diese Regelung a) den Schutz
der öffentlichen Gesundheit im Auge hat und b) die Herstellung von
Erzeugnissen betrifft, die für die Ausfuhr in Drittländer bestimmt
sind?
- Inwieweit ist der Gemeinschaftsgesetzgeber befugt,
auf der Grundlage des EG-Rechts zur gemeinschaftlichen Handelspolitik
die Ausfuhr bestimmter Erzeugnisse in Drittländer in Zusammenhang mit
den Gefahren, die die Erzeugnisse für die öffentliche Gesundheit darstellen,
zu beschränken?
- Ist die Regelung geeignet, und ist nicht eine andere
- weniger beschränkende - Maßnahme ersichtlich, die die öffentliche
Gesundheit ebenso gut schützt ( Verhältnismäßigkeitsgrundsatz)?
Der Generalanwalt trägt heute seine Schlussanträge vor. Aufgabe der Generalanwälte ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung für die Rechtssache vorzuschlagen, mit der sie befasst sind. Die Schlussanträge der Generalanwälte sind für den Gerichtshof nicht bindend. |
I. Harmonisierung des Binnenmarktes
A. Schutz der öffentlichen Gesundheit
Der Gemeinschaftsgesetzgeber sei zum Erlass von Harmonisierungsvorschriften
befugt, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts beträfen.
Sobald sich ein (potenzielles) Handelshemmnis zeige, müsse die Gemeinschaft
tätig werden können. Das Ziel einer solchen Regelung sei dabei nicht
von Belang. Die Regelung dürfe auf dem Wunsch basieren, die öffentliche
Gesundheit zu schützen.
Der Generalanwalt geht dabei von folgenden Erwägungen aus:
- Handelshemmnisse entstünden häufig dadurch, dass der nationale
Gesetzgeber zum Schutz eines im Gemeinschaftsrecht anerkannten öffentlichen
Interesses wie etwa der öffentlichen Gesundheit tätig werde.
- Der Gemeinschaftsgesetzgeber müsse dann tätig werden können,
wobei er den Schutz des öffentlichen Interesses vom nationalen Gesetzgeber
übernehme. In manchen Fällen sei er auch durch den EG-Vertrag verpflichtet,
selbst tätig zu werden.
- Die Übernahme dieser Aufgabe durch den Gemeinschaftsgesetzgeber dürfe
allerdings nicht dazu führen, dass das öffentliche Interesse (im vorliegenden
Fall die Bekämpfung des Tabakkonsums) weniger gut geschützt werde.
Zusammengefasst: Könnte der Gemeinschaftsgesetzgeber von seiner Befugnis,
Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheit zu harmonisieren,
keinen Gebrauch machen, fiele ein wichtiges Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes
weg. Es seien nämlich häufig gerade die gerechtfertigten nationalen
Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, die Handelshemmnisse
hervorriefen.
Der Richter müsse nach Feststellung des Handelshemmnisses prüfen,
ob die Regelung auch tatsächlich ein im Gemeinschaftsrecht anerkanntes
öffentliches Interesse im Auge habe und ob das Tätigwerden des Gemeinschaftsgesetzgebers
geeignet sei, zur Beseitigung dieses Handelshemmnisses beizutragen. Bei der
Richtlinie 2001/37 - die die Bekämpfung des Rauchens bezwecke und dazu
den Handel mit Zigaretten regele - fällt diese Prüfung nach Ansicht
von Generalanwalt Geelhoed positiv aus. Sollte der Gemeinschaftsgesetzgeber
säumig bleiben, sei nämlich durchaus davon auszugehen, dass verschiedene
nationale Gesetzgeber tätig würden, was zu voneinander abweichenden
Rechtsvorschriften innerhalb der Europäischen Union und damit zu Handelshemmnissen
führen würde.
B. Herstellung zur Ausfuhr in Drittländer
Nach Ansicht des Generalanwalts ist der Gemeinschaftsgesetzgeber befugt, im
Rahmen der Harmonisierung des Binnenmarktes Vorschriften über die Herstellung
von Zigaretten zu erlassen, auch wenn diese Herstellung zur Ausfuhr von Zigaretten
aus der Europäischen Union erfolgt.
Dabei stützt er sich auf die Begründung, die der Gemeinschaftsgesetzgeber
angeführt habe, nämlich zu verhindern, dass die Vorschriften des Binnenmarktes
unterlaufen würden. Aus der Behandlung der Sache durch den Gerichtshof
ergebe sich, dass der Gesetzgeber sowohl sein Augenmerk auf die illegale
Wiedereinfuhr von Zigaretten richte, die nicht die Normen der Richtlinie erfüllten,
als auch verhindern wolle, dass Zigaretten unmittelbar in der Europäischen
Union illegal auf den Markt kämen.
Nach Auffassung des Generalanwalts kann der Gemeinschaftsgesetzgeber in einer
solchen Lage unter folgenden Voraussetzungen tätig werden:
- Der Schaden, der aus der Umgehung der Wirkung der
Regelung entstehen könne, müsse ernsthaft sein. Mit anderen Worten,
es müsse um eine spürbare Störung des Binnenmarktes gehen.
- Der Schaden könne vernünftigerweise nur
dann verhindert werden, wenn sichergestellt werde, dass in allen Mitgliedstaaten
gleichförmig gehandelt werde. Mit anderen Worten: Bei Disparität
der nationalen Umsetzungsvorschriften und Praktiken, jedenfalls bei der
konkreten Gefahr voneinander abweichender nationaler Vorschriften, sei es
nicht hinreichend sicher, dass gegen die Umgehung auch effektiv angegangen werden
könne. Der Handel verlagere sich dann in die Mitgliedstaaten mit den
am wenigsten strengen Vorschriften.
- Das Fehlen ergänzender Vorschriften führe
zu unverhältnismäßig großen Umsetzungs- und Anwendungsbelastungen.
Der Generalanwalt beurteilt die Ernsthaftigkeit eines möglichen Schadens
anhand der Einschätzung des Risikos, dass ein illegaler Markt entstehe.
Zigaretten seien ein Genussmittel und hätten daher für den Konsumenten
etwas Spannendes. Das treffe sicher auf den jungen Konsumenten zu, dem die Politik
der Bekämpfung des Rauchens ganz wesentlich gelte. Unter diesen Umständen
sei es durchaus wahrscheinlich, dass ein illegaler Markt für Zigaretten
entstehe, die in der Europäischen Union verboten, außerhalb aber doch
erhältlich seien. Die Illegalität an sich könne schon dazu
führen, dass das betreffende Produkt einen Markt fände.
II. Gemeinschaftliche Handelspolitik
Da für den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht festgestanden habe, dass die
Harmonisierung des Binnenmarktes auch als Rechtsgrundlage für die Regelung
aus der Europäischen Union auszuführender Zigaretten dienen könne,
sei für diesen einen Aspekt der Richtlinie die Vertragsbestimmung über
die gemeinschaftliche Handelspolitik als Rechtsgrundlage hinzugefügt worden.
Einleitend führt Generalanwalt Geelhoed aus, dass die Befugnis des
Gemeinschaftsgesetzgebers auf dem Gebiet der gemeinschaftlichen Handelspolitik
eine Regelung decke, die in erster Linie die öffentliche Gesundheit schütze.
In dieser Hinsicht unterscheide sich diese Befugnis des Gemeinschaftsgesetzgebers
nicht von der Befugnis zur Harmonisierung des Binnenmarktes. Dies treffe sicher
auf eine Regelung wie die Richtlinie 2001/37 zu, die die Ausfuhr von qualitativ
minderwertigen Zigaretten verhindern solle, die auf dem Binnenmarkt verboten
seien.
Allerdings scheitere die Hinzufügung dieser Rechtsgrundlage im vorliegenden
Fall am Begründungserfordernis. Als einzige Begründung führe
der Gemeinschaftsgesetzgeber an, dass die Anwendung der Richtlinie auf die Ausfuhr
gewährleisten solle, dass die Vorschriften des Binnenmarktes nicht unterlaufen
würden. Dies gehöre nicht zu den Zielen der gemeinschaftlichen Handelpolitik.
Generalanwalt Geelhoed kommt zu dem Ergebnis, dass die Vertragsbestimmung
über die gemeinschaftliche Handelspolitik zu Unrecht mit als Rechtsgrundlage
für die Richtlinie diene. Das die Harmonisierung des Binnenmarktes
betreffende Gemeinschaftsrecht könne als Rechtsgrundlage für die Anwendung
der Richtlinie auf die Herstellung von Zigaretten unabhängig von deren
Bestimmung herangezogen werden. Somit könne die ganze Richtlinie auf diese
Rechtsgrundlage gestützt werden.
Nach Ansicht des Generalanwalts führt dies nicht zur Nichtigkeit der Richtlinie,
da auch nach Wegfall der zweiten Rechtsgrundlage eine ausreichende Rechtsbasis
bestehen bleibt.
III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Dieser Grundsatz bezieht sich auf die Wahl der Maßnahme zum Schutz der
öffentlichen Gesundheit. Ist die Regelung geeignet, und ist keine andere
- weniger einschränkende - Maßnahme ersichtlich, die die öffentliche
Gesundheit ebenso gut schützt? Generalanwalt Geelhoed bejaht diese Fragen.
Es gehe nämlich um die Verhältnismäßigkeit von zwei besonderen
Aspekten der Richtlinie: des Produktionsverbots (in Verbindung mit seiner Anwendung
auf die Ausfuhr) und des Verbots der Verwendung von Zeichen wie .leicht
und .mild.
Für den Generalanwalt steht fest, dass ein Produktionsverbot erforderlich
ist, um das Ziel der Maßnahme zu erreichen. Er weist erneut darauf hin,
dass
- die Gefahr der Entstehung eines illegalen Marktes
beträchtlich sei, sei es aufgrund der Wiedereinfuhr, sei es dadurch, dass
Produkte unmittelbar auf den illegalen Markt gelangen;
- ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich
sei, um dem entgegenzutreten. Einseitige nationale Maßnahmen seien im Hinblick
auf die Kontrolle nicht effektiv;
- einseitige nationale Maßnahmen darüber hinaus
zu einer spürbaren Störung des Binnenmarktes führen würden.
Was die Zeichen angeht, so ist für den Generalanwalt ausschlaggebend, dass
es sich um ein Verbot einer begrenzten Zahl gängiger Hinweise handele,
die beim Verbraucher insbesondere bezüglich der Schädlichkeit des
Produkts Verwirrung stiften könnten. Dabei spielt nach seiner Ansicht eine
Rolle, dass ernsthaft zu bezweifeln sei, ob es zu einer Gesundheitsverbesserung
führe, wenn die Verbraucher zu Zigaretten mit einem niedrigeren Teergehalt
übergingen.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch,
Italienisch und Niederländisch vor. Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils konsultieren Sie
bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet
www.curia.eu.int Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle
Phalippou, |
1 - Urteil in der Rechtssache C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419. 2 - Beim Gerichtshof haben die britischen Hersteller, Japan Tobacco, das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission und die Regierungen von Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, der Niederlande, des Vereinigten Königreichs und Schwedens Erklärungen eingereicht.