PRESSEMITTEILUNG N. 76/02
Schlussanträge des Generalanwalts Dámaso Ruiz-Jarabo in den Rechtssachen
C-187/01 und C-385/01
Das Schengener Übereinkommen und das Übereinkommen zur Durchführung
des Schengener Übereinkommens (SDÜ) wurden durch den Vertrag von Amsterdam
von 1997 in den Rahmen der Europäischen Union einbezogen. Diese Übereinkommen
haben zum Ziel, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, die die Übereinkommen
unterzeichnet haben (alle Mitgliedstaaten außer Irland und dem Vereinigten
Königreich), zu begründen, um die europäische Integration zu
vertiefen und schneller einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
zu errichten.
Außerdem wurden dem Gerichtshof mit dem Vertrag von Amsterdam neue Befugnisse
übertragen, damit dieser sich bei Vorabentscheidungsfragen über die
Auslegung der von den Mitgliedstaaten getroffenen Übereinkommen über
die polizeiliche und gerichtliche Zusammenarbeit in Strafsachen äußern
kann. Dies ist das erste Mal, dass der Gerichtshof diese Befugnis ausübt.
Hüseyin Gözütok ist ein türkischer Staatsangehöriger, der seit langem in den Niederlanden wohnt. Eine von der niederländischen Polizei durchgeführte Untersuchung ergab, dass Herr Gözütok illegal mit Betäubungsmitteln handelte. Die niederländische Staatsanwaltschaft bot ihm einen Vergleich im Hinblick auf die Einstellung der Strafverfolgung an, den er annahm. Die deutschen Behörden erhoben gegen ihn jedoch wegen der im Nachbarland begangenen Taten Anklage, und er wurde von einem Aachener Gericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen das betreffende Urteil legte er Berufung ein. In der Berufungsinstanz wurde dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, die dahin geht, ob das im SDÜ enthaltene Ne-bis-in- idem-Prinzip einen Strafklageverbrauch zur Folge hat.
Als der in Deutschland wohnende deutsche Staatsangehörige Klaus Brügge
sich in Belgien aufhielt, fügte er einer Belgierin Verletzungen zu und
wurde dafür vor einem belgischen Gericht angeklagt. Gleichwohl führte
die Staatsanwaltschaft Bonn gegen ihn wegen desselben Sachverhalts ein Ermittlungsverfahren
durch, bei dem ihm ein Vergleich angeboten wurde, das Verfahren gegen Zahlung
einer Geldbuße einzustellen. Der Beschuldigte nahm diesen Vergleich an.
Das belgische Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob es den deutschen
Staatsbürger nach dem SDÜ vorladen kann, nachdem der Fall in Deutschland
zu den Akten gelegt wurde.
Die Ansicht des Generalanwalts
ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist
es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche
Lösung der von ihm bearbeiteten Rechtssachen vorzuschlagen.
Der Generalanwalt erklärt, dass das Ne-bis-in-idem-Prinzip ein Grundrecht
der Bürger sei, an das sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Europäische
Union gebunden seien. Es würde gegen die Grundsätze des Aufbaus Europas
verstoßen, wenn jemand, gegen den wegen eines Sachverhalts ein Endurteil
ergangen sei, in einem anderen Mitgliedstaat erneut verurteilt werden könnte,
sei es, dass er mit dem ersten Urteil freigesprochen oder verurteilt wurde.
Das Hauptproblem liegt nach Ansicht des Generalanwalts jedoch darin, festzustellen,
ob ein Sachverhalt bei einem staatsanwaltlichen Vergleich endgültig abgeurteilt
wird. Seiner Ansicht nach handelt es sich um eine Form der Rechtspflege, die
die Rechte des Beschuldigten gewährleistet und zur Verhängung einer
Sanktion führt. Das heißt, der staatsanwaltliche Vergleich sei
verbindlich und, wenn er erfüllt worden sei, das letzte Wort der
öffentlichen Gewalt in der Sache. Dies gilt nur bei einer öffentlichen
Strafklage, lässt jedoch etwaige Schadensersatzansprüche des Opfers
unberührt.
Der Generalanwalt meint daher, dass die Bestimmung des SDÜ
über das Ne-bis-in-idem- Prinzip auf denjenigen Anwendung finde, der bei
der Staatsanwaltschaft eine Entscheidung erwirke, die Strafverfolgung einzustellen,
sobald er den Auflagen nachgekommen sei, zu deren Erfüllung er sich gegenüber
der Staatsanwaltschaft verpflichtet habe.
Schließlich weist der Generalanwalt darauf hin, dass der Vertrag über
die Europäische Union zur Errichtung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorgehens vorsehe, um
die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien und den Justizbehörden der
Mitgliedstaaten bei Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Entscheidungen
zu erleichtern und zu beschleunigen. Dieses Ziel könne nicht ohne gegenseitiges
Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre Strafrechtssysteme und ohne gegenseitige
Anerkennung der jeweiligen Entscheidungen erreicht werden, basierend auf dem
Gedanken, dass auch dann, wenn ein Staat eine bestimmte Materie nicht genauso
wie der andere handhabe, die Ergebnisse als mit den eigenen Entscheidungen gleichwertig
anerkannt werden müssten, weil sie denselben Grundsätzen und Werten
entsprächen.
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