PRESSEMITTEILUNG N. 95/02
Vorabentscheidungsverfahren Alexander Dory / Bundesrepublik Deutschland
(Kreiswehrersatzamt Schwäbisch Gmünd)
NACH ANSICHT VON GENERALANWÄLTIN STIX-HACKL WIRD EINE
NATIONALE REGELUNG WIE DIE DEUTSCHE WEHRPFLICHT NUR FÜR
MÄNNER VON DEN GEMEINSCHAFTSRECHTLICHEN VORSCHRIFTEN ÜBER
DIE GLEICHBEHANDLUNG VON MÄNNERN UND FRAUEN NICHT ERFASST
Aus diesem Grund steht das Gemeinschaftsrecht der deutschen Wehrpflicht nicht entgegen
Die Generalanwältin verkündet heute ihre Schlussanträge in dieser Rechtssache.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung der von ihm bearbeiteten Rechtssachen vorzuschlagen. |
Nach Ansicht der Generalanwältin wird die deutsche Wehrpflicht nur für Männer von den
gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsvorschriften nicht erfasst.
Die Generalanwältin stellt zunächst fest, dass die deutsche Wehrpflicht wesentlicher Bestandteil
der nationalen Bestimmungen zur Gewährleistung der äußeren Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland ist.
Daraus folge jedoch nicht zwingend, dass die Frage einer Wehrpflicht und deren Ausgestaltung
dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts vollständig entzogen sei: Zwar falle die
Organisation der Streitkräfte als wesentlicher Bestandteil der Gewährleistung der äußeren
Sicherheit als solche in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dies bedeute
jedoch nicht, dass die konkrete Ausgestaltung der in diesem Rahmen gesetzten nationalen
Maßnahmen nicht im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf andere, gemeinschaftsrechtlich
geschützte Rechtspositionen zu prüfen wäre. Die nationalen Maßnahmen, so weit sie
Wirkungen in gemeinschaftsrechtlich geregelten Bereichen zeitigen, müssen daher nach
Auffassung der Generalanwältin am Maßstab des - vorrangigen - Gemeinschaftsrechts
geprüft werden. Prüfungsmaßstab im vorliegenden Fall seien die Gebote des
Gemeinschaftsrechts zur Gleichbehandlung der Geschlechter.
Im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des EG-Vertrages zum
Gleichbehandlungsgebot (Artikel 3 Absatz 2, Artikel 13 und Artikel 141) kommt die
Generalanwältin zu dem Schluss, dass diese einer nationalen Wehrpflicht nur für Männer nicht
entgegenstehen.
Die Generalanwältin prüft weiters, ob eine nationale Wehrpflicht oder ihre Auswirkungen vom
Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur
Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des
Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf
die Arbeitsbedingungen (Gleichbehandlungsrichtlinie) erfasst werden. Herr Dory behauptet
Auswirkungen der Wehrpflicht auf den Zugang der Männer zum zivilen Arbeitsmarkt. Die
Generalanwältin bezweifelt nicht, dass Männer - anders als Frauen - während des Wehrdienstes
grundsätzlich keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben und nach Ableistung des Wehrdienstes
dieser Zugang zeitlich verzögert sei. Da es somit um geschlechtsspezifische Aspekte beim
Zugang zum zivilen Arbeitsmarkt gehe, sei der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie
grundsätzlich gegeben.
Allerdings sei der hier beanstandete zeitweise unterbundene und später zeitverzögerte
Zugang der Männer zum zivilen Arbeitsmarkt nicht Inhalt bzw. Gegenstand des deutschen
Wehrpflichtgesetzes, sondern vielmehr dessen Auswirkung. Es handle sich also nicht um eine
Regulierung des Zugangs zu einer Beschäftigung, sondern um eine nationale Maßnahme, die sich
auf den Zugang zur Beschäftigung lediglich auswirke.
Somit stelle sich die Frage, ob innerstaatliche Maßnahmen, welche derart einen unterschiedlichen
Zugang zur Beschäftigung lediglich bewirken oder bewirken könnten, in den Anwendungsbereich
der Richtlinie fallen. Der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207 ist dabei nach
Ansicht der Generalanwältin eng auszulegen. Eine Analyse der Rechtsprechung des
Gerichtshofes der EG ergebe, dass nationale Maßnahmen, die eine Beschränkung dieses Zugangs
bewirken oder bewirken könnten, aber keine Regulierung zum Gegenstand hätten, außerhalb des
Anwendungsbereichs der Richtlinie lägen. Auch aus der Richtlinie selbst ergäben sich
entsprechende Hinweise.
Nach Auffassung der Generalanwältin beschränkt sich der sachliche Anwendungsbereich der Gleichbehandlungs-Richtlinie somit auf nationale Maßnahmen, deren Gegenstand die Regulierung der Arbeitsbedingungen oder des Zugangs zur Beschäftigung oder zur Berufsbildung ist.
Seit 1997 schreibt der EG-Vertrag der Europäischen Gemeinschaft vor, u. a. in der Sozialpolitik
darauf hin zu wirken, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und
Frauen zu fördern (Art. 3 Abs. 2). Die Generalanwältin gibt zu bedenken, dass auch der
Gerichtshof diese Vorschrift bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht zu beachten habe. Im
Anlassfall würde dies jedoch zu keiner anderen Auslegung der Richtlinie führen.
Da nach alledem die Wehrpflicht nur für Männer trotz der Auswirkungen auf den Zugang von
Männern zum zivilen Arbeitsmarkt nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie
76/207 falle, erübrigt sich nach Ansicht der Generalanwältin eine weitere Prüfung am Maßstab
der Richtlinie im Hinblick auf das Vorliegen einer Diskriminierung oder deren mögliche
Rechtfertigung.
Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes der EG beginnen nun ihre Beratung in dieser
Rechtssache. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, finnischer, französischer, griechischer,
italienischer, portugiesischer und spanischer Sprache vor.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab
ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int
Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Herrn Konstantin Schmidt,
Bilder der Verlesung der Schlussanträge sind verfügbar über .Europe by Satellite -
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1vom 11.01.2000 in der Rechtssache C-285/98 (siehe Pressemitteilung Nr.1/2000)