Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG N. 95/02


28. November 2002

Schlussanträge der Generalanwältin Christine Stix-Hackl in der Rechtssache C-186/01

Vorabentscheidungsverfahren Alexander Dory / Bundesrepublik Deutschland (Kreiswehrersatzamt Schwäbisch Gmünd)

NACH ANSICHT VON GENERALANWÄLTIN STIX-HACKL WIRD EINE NATIONALE REGELUNG WIE DIE DEUTSCHE WEHRPFLICHT NUR FÜR MÄNNER VON DEN GEMEINSCHAFTSRECHTLICHEN VORSCHRIFTEN ÜBER DIE GLEICHBEHANDLUNG VON MÄNNERN UND FRAUEN NICHT ERFASST

Aus diesem Grund steht das Gemeinschaftsrecht der deutschen Wehrpflicht nicht entgegen


In Deutschland besteht eine allgemeine Wehrpflicht, die nur für Männer gilt. Herr Dory, der sich im wehrpflichtigen Alter befindet, stellte bei dem für seine Einberufung zuständigen Kreiswehrersatzamt den Antrag, ihn von der Wehrpflicht zu befreien. Zur Begründung führte er aus, dass das deutsche Wehrpflichtgesetz gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, und berief sich hierzu vor allem auf das Urteil Kreil des Gerichtshofes der EG1. Nach diesem Urteil gebe es keine sachlichen Gründe mehr, die einen Ausschluss von Frauen von der Wehrpflicht aus geschlechtsspezifischen Gründen rechtfertigen könnten. Denn Frauen hätten seither zwar ein Recht zum Dienst mit der Waffe, nicht aber eine Pflicht zum Wehrdienst. Der Antrag wurde abgelehnt. Herr Dory erhob Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, das den Gerichtshof der EG nunmehr ersucht, zu entscheiden, ob eine auf Männer beschränkte nationale Wehrpflicht gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. Das deutsche Gericht weist u. a. darauf hin, dass die Wehrpflicht jedenfalls einen verspäteten Zugang der Männer zu Beschäftigung und Berufsausbildung bewirke.

Die Generalanwältin verkündet heute ihre Schlussanträge in dieser Rechtssache.

Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung der von ihm bearbeiteten Rechtssachen vorzuschlagen.  

Nach Ansicht der Generalanwältin wird die deutsche Wehrpflicht nur für Männer von den gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsvorschriften nicht erfasst.

Die Generalanwältin stellt zunächst fest, dass die deutsche Wehrpflicht wesentlicher Bestandteil der nationalen Bestimmungen zur Gewährleistung der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ist.

Daraus folge jedoch nicht zwingend, dass die Frage einer Wehrpflicht und deren Ausgestaltung dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts vollständig entzogen sei: Zwar falle die Organisation der Streitkräfte als wesentlicher Bestandteil der Gewährleistung der äußeren Sicherheit als solche in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dies bedeute jedoch nicht, dass die konkrete Ausgestaltung der in diesem Rahmen gesetzten nationalen Maßnahmen nicht im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf andere, gemeinschaftsrechtlich geschützte Rechtspositionen zu prüfen wäre. Die nationalen Maßnahmen, so weit sie Wirkungen in gemeinschaftsrechtlich geregelten Bereichen zeitigen, müssen daher nach Auffassung der Generalanwältin am Maßstab des - vorrangigen - Gemeinschaftsrechts geprüft werden. Prüfungsmaßstab im vorliegenden Fall seien die Gebote des Gemeinschaftsrechts zur Gleichbehandlung der Geschlechter.

Im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des EG-Vertrages zum Gleichbehandlungsgebot (Artikel 3 Absatz 2, Artikel 13 und Artikel 141) kommt die Generalanwältin zu dem Schluss, dass diese einer nationalen Wehrpflicht nur für Männer nicht entgegenstehen.

Die Generalanwältin prüft weiters, ob eine nationale Wehrpflicht oder ihre Auswirkungen vom Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (Gleichbehandlungsrichtlinie) erfasst werden. Herr Dory behauptet Auswirkungen der Wehrpflicht auf den Zugang der Männer zum zivilen Arbeitsmarkt. Die Generalanwältin bezweifelt nicht, dass Männer - anders als Frauen - während des Wehrdienstes grundsätzlich keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben und nach Ableistung des Wehrdienstes dieser Zugang zeitlich verzögert sei. Da es somit um geschlechtsspezifische Aspekte beim Zugang zum zivilen Arbeitsmarkt gehe, sei der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie grundsätzlich gegeben.

Allerdings sei der hier beanstandete zeitweise unterbundene und später zeitverzögerte Zugang der Männer zum zivilen Arbeitsmarkt nicht Inhalt bzw. Gegenstand des deutschen Wehrpflichtgesetzes, sondern vielmehr dessen Auswirkung. Es handle sich also nicht um eine Regulierung des Zugangs zu einer Beschäftigung, sondern um eine nationale Maßnahme, die sich auf den Zugang zur Beschäftigung lediglich auswirke.

Somit stelle sich die Frage, ob innerstaatliche Maßnahmen, welche derart einen unterschiedlichen Zugang zur Beschäftigung lediglich bewirken oder bewirken könnten, in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207 ist dabei nach Ansicht der Generalanwältin eng auszulegen. Eine Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofes der EG ergebe, dass nationale Maßnahmen, die eine Beschränkung dieses Zugangs bewirken oder bewirken könnten, aber keine Regulierung zum Gegenstand hätten, außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie lägen. Auch aus der Richtlinie selbst ergäben sich entsprechende Hinweise.

Nach Auffassung der Generalanwältin beschränkt sich der sachliche Anwendungsbereich der Gleichbehandlungs-Richtlinie somit auf nationale Maßnahmen, deren “Gegenstand” die Regulierung der Arbeitsbedingungen oder des Zugangs zur Beschäftigung oder zur Berufsbildung ist.


Seit 1997 schreibt der EG-Vertrag der Europäischen Gemeinschaft vor, u. a. in der Sozialpolitik “darauf hin zu wirken, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern” (Art. 3 Abs. 2). Die Generalanwältin gibt zu bedenken, dass auch der Gerichtshof diese Vorschrift bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht zu beachten habe. Im Anlassfall würde dies jedoch zu keiner anderen Auslegung der Richtlinie führen.

Da nach alledem die Wehrpflicht nur für Männer trotz der Auswirkungen auf den Zugang von Männern zum zivilen Arbeitsmarkt nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207 falle, erübrigt sich nach Ansicht der Generalanwältin eine weitere Prüfung am Maßstab der Richtlinie im Hinblick auf das Vorliegen einer Diskriminierung oder deren mögliche Rechtfertigung.

Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes der EG beginnen nun ihre Beratung in dieser Rechtssache. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.


Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, finnischer, französischer, griechischer, italienischer, portugiesischer und spanischer Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int 

Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Herrn Konstantin Schmidt,
Tel.: (0 03 52) 43 03-32 55; Fax: (0 03 52) 43 03-27 34.

Bilder der Verlesung der Schlussanträge sind verfügbar über .Europe by Satellite“ -
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1vom 11.01.2000 in der Rechtssache C-285/98 (siehe Pressemitteilung Nr.1/2000)