Abteilung Presse und Information
PRESSEMITTEILUNG Nº 11/03
27. Februar 2003
Schlussanträge des Generalanwalts L.A. Geelhoed in der Rechtssache C-109/01
Secretary of State for the Home Department / Hacene Akrich
EIN GEMEINSCHAFTSBÜRGER, DER VON DER FREIZÜGIGKEIT DER ARBEITNEHMER GEBRAUCH GEMACHT HAT, KANN DARAUS
NACH DER RÜCKKEHR IN SEIN HEIMATLAND DAS RECHT HERLEITEN, DASS SICH SEIN EHEGATTE
MIT IHM IN DIESEM LAND NIEDERLÄSST, UND ZWAR UNGEACHTET DER STAATSANGEHÖRIGKEIT DES EHEGATTEN
Ein Mitgliedstaat kann jedoch unter Berufung auf ein zwingendes nationales Interesse dem Ehegatten,
der die Staatsangehörigkeit eines Drittlandes besitzt und dem nach dem Einwanderungsrecht eines Mitgliedstaats
die Einreise in die EU nicht gestattet ist, die Einreise verweigern.
Mit welchen Absichten der Arbeitnehmer und sein Ehegatte von den sich aus der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer ergebenden Rechten Gebrauch machen, ist unerheblich.
Dabei machte er insbesondere die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer geltend,
wie sie im Urteil Singh ausgelegt worden sind. Nach diesem Urteil hat ein
Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einen anderen Mitgliedstaat als Arbeitnehmer im Sinne des
Gemeinschaftsrechts beschäftigt war, bei der Rückkehr in sein Land das Recht, mit dem
Ehegatten zusammenzuleben, und zwar unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit. Der Ehegatte hat aufgrund des
Gemeinschaftsrechts ein eigenes Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Arbeitnehmer besitzt1.
Das letztinstanzlich angerufene Immigration Appeal Tribunal ersucht den Gerichtshof um Vorabentscheidung u. a. über
folgende Frage: Kann eine Gemeinschaftsbürgerin bei der Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat das Recht
beanspruchen, das nach dem Gemeinschaftsrecht Wanderarbeitnehmern zusteht, nämlich das Recht, dass sich ihr
Ehemann mit ihr im Herkunftsmitgliedstaat niederlassen darf, und muss der Herkunftsmitgliedstaat akzeptieren, dass
das nationale Einwanderungsrecht auf den Ehemann nicht anwendbar ist?
Generalanwalt L. A. Geelhoed trägt heute seine Schlussanträge in dieser Rechtssache vor.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung der von ihm bearbeiteten Rechtssachen vorzuschlagen. |
Wo es ) wie in der Rechtssache Akrich ) um die Ehe eines
Staatsangehörigen eines Drittlandes mit einem EG-Bürger gehe, enthalte die mit dem Einwanderungsrecht errichtete
Schwelle auch eine vorherige individuelle Beurteilung durch die Behörden, wobei die Mitgliedstaaten, u. a.
um Scheinehen vorzubeugen, hohe Anforderungen an die Einreise stellten. Aufgrund der in der
Gemeinschaft geltenden Freizügigkeit dagegen dürfe ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der sich in einem
anderen Mitgliedstaat als Arbeitnehmer niederlasse, stets seinen Ehegatten mitnehmen, ohne eine vorherige Beurteilung
und unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit.
Dieser Widerspruch zwischen dem ) strengen ) nationalen Einwanderungsrecht und den ) weniger
strengen ) Gemeinschaftsvorschriften über die interne Freizügigkeit kommt nach Ansicht des Generalanwalts dann
zum Ausdruck, wenn sich Personen, denen die Einreise noch nicht gestattet sei oder
die sich ) wie im Fall von Herrn Akrich ) ohne Aufenthaltsgenehmigung im
Gebiet der Europäischen Union befänden, auf das Gemeinschaftsrecht beriefen, um rechtmäßig in dieses
Gebiet einreisen zu können. Das Gemeinschaftsrecht werde dann in einem Fall herangezogen, der
im Wesentlichen in die nationale Einwanderungszuständigkeit falle.
Im Kern gehe es in der Rechtssache Akrich nämlich nicht darum, dass eine
Arbeitnehmerin der Gemeinschaft bei der Ausübung der ihr nach dem EG-Vertrag zustehenden Freiheit
mit ihrem Ehemann zusammenleben wolle, sondern sie wolle von ihrem Status als Arbeitnehmerin
Gebrauch machen, um ihrem Ehemann die Einreise in die Europäische Union zu ermöglichen.
Generalanwalt Geelhoed schlägt folgende Lösung vor:
Er weist darauf hin, dass ein Gemeinschaftsbürger, der von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer
Gebrauch gemacht habe, daraus nach der Rückkehr in sein Land das Recht herleiten
könne, dass sich sein Ehegatte mit ihm in diesem Land niederlasse, ungeachtet der
Staatsangehörigkeit des Ehegatten. Der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Arbeitnehmer besitze, könne jedoch sein
Einwanderungsrecht anwenden und dem Ehegatten des Arbeitnehmers nach diesem Recht die Einreise verweigern,
wenn es sich um einen Ehegatten handele, der die Staatsangehörigkeit eines Drittlandes besitze
und dem nicht nach dem Einwanderungsrecht die Einreise in die EU gestattet sei.
Der Mitgliedstaat könne sich insoweit auf ein zwingendes nationales Interesse berufen.
Diese Beurteilung sei aber an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Frau Akrich und ihr Ehemann
würden nämlich durch die Maßnahme in der Ausübung eines ihnen nach dem Gemeinschaftsrecht
zustehenden Rechts auf Freizügigkeit behindert. Nach Ansicht von Generalanwalt Geelhoed ist diese Beschränkung
der Freizügigkeit mit der Durchführbarkeit und der Wirksamkeit des Einwanderungsrechts zu rechtfertigen. Die
vorherige individuelle Beurteilung einer Person, die sich noch nicht rechtmäßig im Gebiet der
Union befinde, stelle eine notwendige Bedingung für die Vollendung des Binnenmarktes mit einem
dazugehörigen freien Personenverkehr dar und gehöre zum Kern der nationalen Zuständigkeit im Einwanderungsbereich.
Gleichzeitig müsse verhindert werden, dass das nationale Einwanderungsrecht umgangen werde, und der Umfang
des Risikos für die Durchführbarkeit und Wirksamkeit des nationalen Einwanderungsrechts sei nicht zu
unterschätzen.
Liegt in dieser Rechtssache ein Missbrauch des Gemeinschaftsrechts vor? Herr und Frau Akrich
haben nämlich ausdrücklich erklärt, dass sie sich in Irland lediglich in der Absicht
niedergelassen hätten, dem britischen Einwanderungsrecht zu entgehen. Von einem Missbrauch des Gemeinschaftsrechts ist
nach Ansicht des Generalanwalts gleichwohl keine Rede. Herr Geelhoed weist darauf hin, dass
es schwer sei, die Lehre vom Missbrauch des Gemeinschaftsrechts in einem konkreten Fall
anzuwenden. Subjektive Kriterien, insbesondere die Absicht der Betroffenen, seien leicht zu manipulieren. Objektive
Kriterien wie die Dauer des Aufenthalts in Irland könnten umgangen werden. Schließlich sei
die Grenze zwischen einem Missbrauch des EG-Rechts und dessen Verwendung für ein Ziel,
das der Gesetzgeber nicht angestrebt habe, schwer festzustellen.
Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes treten nun in die Beratung dieser Rechtssache ein.
Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, französischer, italienischer, niederländischer und spanischer Sprache vor. Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Herrn Konstantin Schmidt, Tel.: (0 03 52) 43 03-32 55, Fax: (0 03 52) 43 03-27 34. |