PRESSEMITTEILUNG N. 36/03
DER GRUNDSATZ DES FREIEN DIENSTLEISTUNGSVERKEHRS STEHT DER
NIEDERLÄNDISCHEN REGELUNG ENTGEGEN, WONACH BEI EINER
VERSORGUNG AUSSERHALB EINES KRANKENHAUSES, DIE IN EINEM
ANDEREN MITGLIEDSTAAT DURCH EINEN LEISTUNGSERBRINGER
ERFOLGT, MIT DEM DIE KRANKENKASSE DES VERSICHERTEN KEINE
VERTRAGLICHE VEREINBARUNG GETROFFEN HAT, EINE VORHERIGE
GENEHMIGUNG ERFORDERLICH IST
Frau Müller-Fauré konsultierte im Oktober und November 1994 während eines Urlaubs in
Deutschland einen Zahnarzt, ohne die vorherige Genehmigung ihrer Krankenkasse eingeholt zu
haben. Nach ihrer Rückkehr in die Niederlande beantragte sie bei der Krankenkasse Zwijndrecht
die Erstattung der Kosten für ihre Behandlung (Einsetzen von sechs Kronen und einer
festsitzenden Prothese).
Frau van Riet, die seit 1985 an Schmerzen im rechten Handgelenk litt, beantragte bei der
Krankenkasse Amsterdam die Übernahme der Kosten für eine Arthroskopie und eine
Ulnaresektion, die im Mai 1993 in Belgien durchgeführt worden waren, ohne dass sie zuvor eine
Genehmigung eingeholt hatte. Die Vorbereitung, Ausführung und Nachbehandlung dieser
Eingriffe erfolgte binnen sehr viel kürzerer Zeit, als dies in den Niederlanden möglich gewesen
wäre, zum Teil im Krankenhaus, zum Teil außerhalb.
In beiden Fällen lehnte die Krankenkasse die Erstattung der Krankheitskosten mit der Begründung ab, dass die notwendige medizinische Versorgung innerhalb angemessener Frist in den Niederlanden hätte erfolgen können.
Das zuständige Gericht, der Centrale Raad van Beroep, bei dem die Rechtsstreitigkeiten
zwischen den Betroffenen und ihren Krankenkassen anhängig sind, fragt den Gerichtshof, ob die
niederländische Regelung mit dem Grundsatz des durch den Vertrag garantierten freien
Dienstleistungsverkehrs vereinbar ist.
Der Gerichtshof prüft, ob diese Behinderung gerechtfertigt sein kann. Er weist darauf hin, dass
eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit
und die Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen, ausgewogenen sowie allen
zugänglichen ärztlichen und klinischen Versorgung Gründe seien, die die Behinderung
rechtfertigen könnten. Hierbei sei zwischen Krankenhausleistungen und Leistungen außerhalb
eines Krankenhauses zu unterscheiden.
Zur Krankenhausversorgung
Der Gerichtshof hat bereits im Urteil Smits und Peerbooms1 festgestellt, dass das System der
vorherigen Genehmigung im Rahmen eines auf vertraglichen Vereinbarungen beruhenden
Systems der Gesundheitsversorgung es ermögliche, im Inland zu gewährleisten, dass ein
ausgewogenes Angebot qualitativ hochwertiger Krankenhausversorgung ständig in
ausreichendem Maß zugänglich sei, sowie dazu beizutragen, die Kosten zu beherrschen und jede
Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen zu verhindern.
Das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung im Fall einer Krankenhausversorgung in
einem anderen Mitgliedstaat sei somit gerechtfertigt. Zusätzlich müssten die Voraussetzungen
für die Erteilung einer derartigen Genehmigung in Anbetracht der erwähnten zwingenden Gründe
gerechtfertigt sein und dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit genügen und dürften keinen
Raum lassen für ein missbräuchliches Verhalten der nationalen Behörden.
Zur Versorgung außerhalb eines Krankenhauses
Nach Auffassung des Gerichtshofes ist im Licht der vor ihm vorgetragenen Argumente nicht ersichtlich, dass die Aufhebung des Erfordernisses der vorherigen Genehmigung für eine außerhalb eines Krankenhauses geleistete Versorgung ungeachtet der Sprachbarrieren, der räumlichen Entfernung, der Kosten eines Auslandsaufenthalts und des Mangels an Informationen über die Art der Versorgung derart viele Patienten veranlassen würde, sich ins Ausland zu begeben, dass dadurch das finanzielle Gleichgewicht des niederländischen Systems der sozialen Sicherheit erheblich gestört würde und infolgedessen das Gesamtniveau des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gefährdet wäre, was eine Beschränkung des elementaren Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs wirksam rechtfertigen könnte.
Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Mitgliedstaaten für die
Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig seien, bei der Ausübung dieser
Befugnis aber das Gemeinschaftsrecht beachten müssten. Die Verwirklichung der
Grundfreiheiten wie des freien Dienstleistungsverkehrs verpflichte die Mitgliedstaaten
unvermeidlich, einige Anpassungen in ihren nationalen Systemen der sozialen Sicherheit
vorzunehmen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass
- bereits im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 über die soziale
Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen diejenigen
Mitgliedstaaten, die ein Sachleistungssystem errichtet hatten, Mechanismen der
nachträglichen Erstattung der Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat als dem
zuständigen durchgeführte Behandlung hätten vorsehen müssen,
- Versicherte die Übernahme der Krankheitskosten nur insoweit verlangen könnten, als das
Krankenversicherungssystem des Staates der Versicherungszugehörigkeit eine Deckung
garantiere,
- der zuständige Mitgliedstaat, der über ein Sachleistungssystem verfüge, die
Erstattungsbeträge festsetzen könne, auf die die Patienten, die in einem anderen
Mitgliedstaat versorgt wurden, Anspruch hätten, soweit diese Beträge auf objektiven,
nichtdiskriminierenden und transparenten Kriterien beruhten.
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass nicht erwiesen sei, dass die Aufhebung des
Erfordernisses der vorherigen Genehmigung geeignet wäre, die wesentlichen Merkmale
des niederländischen Krankenversicherungssystems zu beeinträchtigen.
Der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs stehe somit einer Regelung wie der
niederländischen entgegen, wonach der Versicherte auch im Rahmen eines
Sachleistungssystems bei einer Versorgung außerhalb eines Krankenhauses, die in einem
anderen Mitgliedstaat durch einen nicht vertraglich gebundenen Leistungserbringer
erfolge, eine vorherige Genehmigung einholen müsse.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
Verfügbare Sprachen: Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch, Griechisch
und Niederländisch.
Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr
15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int
Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou,
Aufnahmen der Sitzung sind verfügbar über .Europe by Satellite - |
1 Urteil vom 12. Juli 2001 in der Rechtssache C-157/99; vgl. Pressemitteilung Nr. 32/01.