PRESSEMITTEILUNG N. 38/03
Der Generalanwalt führt aus, dass das in Deutschland seit 1996 geltende Erfordernis einer
Arbeitsgenehmigung nicht gegen die Stillhalteklauseln des Gemeinschaftsrechts verstoße, die
es den EU-Mitgliedstaaten und der Türkei untersagten, für türkische Arbeitnehmer neue
Beschränkungen der Arbeitsgenehmigung einzuführen.
Herr Abatay und drei weitere türkische Staatsangehörige wohnen in der Türkei und arbeiten als
Fahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr. Sie sind bei einer in der Türkei niedergelassenen
türkischen Gesellschaft angestellt, die eine Tochtergesellschaft einer in Deutschland
niedergelassenen deutschen Gesellschaft ist. Die beiden Gesellschaften importieren mit LKWs,
die in Deutschland auf die deutsche Gesellschaft zugelassen sind und u. a. von Herrn Abatay und
seinen drei Kollegen gefahren werden, aus der Türkei Obst und Gemüse nach Deutschland. Die
Bundesanstalt für Arbeit hatte nach dem Inkrafttreten der Regelung vom 1. September 1993
übergangsweise noch bis zum 30. September 1996 befristete Arbeitsgenehmigungen erteilt;
danach lehnte sie es jedoch ab, neue Arbeitsgenehmigungen zu erteilen. (Rechtssache C-317/01)
Herr Sahin, ursprünglich türkischer und seit 1991 deutscher Staatsangehöriger, betreibt in Deutschland ein Transportunternehmen. Eine Tochtergesellschaft dieses Unternehmens hat ihren Sitz in der Türkei. Das Unternehmen in Deutschland ist Eigentümer mehrerer LKWs, die es im internationalen Fernverkehr Deutschland/Türkei/Iran/Irak einsetzt; alle diese LKWs sind in Deutschland zugelassen. Bereits vor dem 1. September 1993 stellte Herr Sahin in der Türkei
türkische Fahrer ein, die die in Deutschland zugelassenen LKWs fahren sollten. (Rechtssache
C-369/01)
Herr Sahin sowie Herr Abatay und seine Kollegen machen vor den deutschen Gerichten geltend,
dass im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätige türkische Fernfahrer für Fahrten zwischen der
Türkei und Deutschland weiterhin keine deutsche Arbeitsgenehmigung brauchten. Dafür stützen
sie sich - im Rahmen des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei von 1963 - auf Artikel 13 des
Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats und auf Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls von
1972, die Stillhalteklauseln enthielten, die es untersagten, neue Beschränkungen des Zugangs
türkischer Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen.
Das Bundessozialgericht hat dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung dieser Klauseln
vorgelegt.
Generalanwalt Jean Mischo hat heute seine Schlussanträge in diesen Rechtssachen
vorgetragen.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Seine Aufgabe besteht darin, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung vorzuschlagen, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssachen helfen kann. |
Nach Ansicht des Generalanwalts können sich die Kläger der Ausgangsverfahren auf keine
der beiden erwähnten Klauseln stützen.
Zu Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats
Der Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei sieht vor, dass die Mitgliedstaaten der
Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt
und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen
der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen dürfen.
Der Generalanwalt weist darauf hin, dass der Beschluss Nr. 1/80 türkischen Arbeitnehmern kein
Recht auf Freizügigkeit zuerkenne. Die Bedingungen des Zugangs zum Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats der Europäischen Union würden weiterhin ausschließlich von diesem Staat
festgelegt. Die Arbeitnehmer könnten die durch den Beschluss Nr. 1/80 zuerkannten Rechte erst
dann in Anspruch nehmen, wenn sie zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats zugelassen worden
seien. Auch nach dem 1. Dezember 1980 könnten die Mitgliedstaaten für türkische
Arbeitnehmer, die beabsichtigten, in ihrem Hoheitsgebiet Zugang zu einer unselbständigen
Tätigkeit zu erlangen, noch neue Einreisebeschränkungen einführen. Nach Artikel 13 dürften
solche Beschränkungen jedoch nicht diejenigen Arbeitnehmer beeinträchtigen, die in dem
betreffenden Mitgliedstaat bereits vor Einführung dieser neuen Beschränkungen rechtmäßig eine
Beschäftigung gefunden und ein Aufenthaltsrecht erworben hätten.
Nach Meinung des Generalanwalts entspricht der Begriff "Arbeitnehmer, dessen Aufenthalt und
Beschäftigung ordnungsgemäß sind" (Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80), dem Begriff
"Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört" (Artikel 6 des
Beschlusses Nr. 1/80).
Herr Abatay und seine drei Kollegen seien in der Türkei beschäftigte Arbeitnehmer, die sich während der Durchführung des grenzüberschreitenden Transports von Gütern nur kurz in dem Mitgliedstaat der Union, Deutschland, aufhielten. Sie gehörten daher nicht dem regulären deutschen Arbeitsmarkt an, sondern dem der Türkei.
Zu Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei
Das Zusatzprotokoll sieht vor, dass die Vertragsparteien untereinander keine neuen
Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.
Sie müssen sich an den Bestimmungen des EG-Vertrags orientieren, um die Beschränkungen des
freien Dienstleistungsverkehrs zu beseitigen.
Der Generalanwalt führt aus, dass nach dem EG-Vertrag jedoch für den freien
Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs die Bestimmungen über den Verkehr gälten
und dass der Assoziationsrat die auf den Verkehr anwendbaren Bestimmungen des EG-Vertrags
nicht auf die Türkei erstreckt habe.
Da die neue deutsche Regelung, die türkischen Fahrern das Fahren von LKWs untersage, die
nicht in der Türkei, sondern in Deutschland zugelassen seien, in den Bereich des Verkehrs falle,
stehe die Stillhalteklausel ihrer Einführung nicht entgegen.
Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes beginnen nunmehr mit der Beratung in diesen
Rechtssachen. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, französischer und niederländischer
Sprache vor.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab
ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int .
Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou,
Filmaufnahmen von der Verlesung der Schlussanträge sind verfügbar über |