PRESSEMITTEILUNG N. 44/03
Nach deutschem Recht ist die große Mehrheit der Angestellten in der gesetzlichen
Krankenversicherung pflichtversichert, sofern ihr Einkommen nicht eine bestimmte Höhe
übersteigt. Die gesetzliche Krankenversicherung wird durch Pflichtbeiträge der Versicherten und
ihrer Arbeitgeber finanziert. Für gewöhnlich sind die Krankenkassen verpflichtet, medizinische
Dienstleistungen und Güter zu erwerben und sie ihren Versicherten zukommen zu lassen. Für
bestimmte Arzneimittel ist jedoch ein Höchstpreis festgesetzt; wenn die Kosten des Arzneimittels
diesen Festpreis übersteigen, muss der Versicherte die Mehrkosten tragen. Nur ungefähr 7 % der
Arzneimittel, für die ein Festbetrag gilt, werden zu einem Preis angeboten, der diesen Betrag
übersteigt.
Die Festbeträge werden in einem zweistufigen Verfahren beschlossen. Zunächst entscheidet ein
Ausschuss, der sich aus Vertretern der Spitzenverbände der Krankenkassen und der
Ärzteverbände zusammensetzt, welche Arten von Arzneimitteln einem Festbetrag unterliegen.
Diese Auswahl wird vom Bundesgesundheitsminister genehmigt. Sodann setzen die
Krankenkassenverbände gemeinsam nach gesetzlich festgelegten Kriterien die Festbeträge fest.
Die festgesetzten Festbeträge sind jährlich zu überprüfen und an veränderte Marktbedingungen
anzupassen. Außerdem sind sie bekannt zu machen und können gerichtlich angefochten werden.
Eine Reihe von Pharma-Unternehmen (die Klägerinnen) haben gegen die Entscheidungen der
Spitzenverbände der Krankenkassen in Deutschland (die Beklagten), den für ihre Arzneimittel
zu zahlenden Festbetrag zu ändern, Klage erhoben. Die Klägerinnen sind der Ansicht, dass die
Entscheidung, Preise festzusetzen, ein wettbewerbswidriges Verhalten darstelle, das nach dem
Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft verboten sei. Die mit den Rechtsmitteln befassten deutschen
Gerichte haben dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen vorgelegt, mit denensie wissen möchten, ob das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft auf diese
Krankenkassenverbände anwendbar ist, ob die Entscheidungen, Festbeträge festzusetzen, gegen
das Gemeinschaftsrecht verstoßen und ob diese Entscheidungen als für die Erbringung von
Dienstleistungen, die im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse lägen, erforderlich gerechtfertigt
sein können.
Generalanwalt Francis Jacobs trägt heute seine Schlussanträge in diesen Rechtssachen vor.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe der Generalanwälte ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag in der betreffenden Rechtssache zu machen. |
Der Generalanwalt ist der Auffassung, dass die gemeinsamen Beschlüsse, Beträge
festzusetzen, nach dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft verboten seien. Mit diesem
Verhalten werde praktisch der Preis für bestimmte Arzneimittel festgelegt, was eine
Beschränkung des Wettbewerbs bezwecke und bewirke und im EG-Vertrag ausdrücklich als
wettbewerbswidrige Verhaltensweise bezeichnet werde.
Der Generalanwalt weist jedoch darauf hin, dass das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft nur
auf wettbewerbswidriges Verhalten anwendbar sei, das Unternehmen aus eigener Initiative
an den Tag legten. Wenn nationales Recht ein solches Verhalten vorschreibe, könne das
Wettbewerbsrecht keine Anwendung finden. Es sei Sache der nationalen Gerichte, zu klären,
ob das deutsche Recht den Beklagten bei der Festsetzung der Festbeträge keine Möglichkeit für
selbständiges Verhalten lasse. Insoweit vertritt der Generalanwalt die Ansicht, dass es den
Beklagten nicht möglich gewesen sei, die Festsetzung eines Betrages zu vermeiden, und dass den
Beklagten die Wahl des Festbetrags wegen des Erfordernisses, den Betrag auf der Grundlage des
niedrigsten Preises der Vergleichsgruppe festzusetzen, nicht völlig freigestanden habe. Die
nationalen Gerichte sollten daher prüfen, ob die Beklagten ein ihnen etwa verbliebenes Ermessen
benutzt hätten, um den Wettbewerb spürbar stärker zu beschränken, als es sich aus einer anderen
zulässigen Entscheidung ergeben hätte.
Falls die Beklagten selbständig gehandelt haben sollten, verbleibe ihnen die Möglichkeit, ihr
Verhalten als erforderliches und verhältnismäßiges Mittel zur Sicherung der Erbringung
von Dienstleistungen, die im allgemeinen Interesse liegen, zu rechtfertigen. DerGeneralanwalt ist der Ansicht, dass die Krankenkassen mit solchen Dienstleistungen betraut
seien und dass die Beklagten ihre Position grundsätzlich rechtfertigen könnten. Es sei jedoch
Sache der nationalen Gerichte, zu beurteilen, ob die Festsetzung von Festbeträgen erforderlich
sei, damit die Beklagten ihre im allgemeinen Interesse liegende Aufgabe erfüllen könnten, ob
also die Festbetragsfestsetzung tatsächlich erforderlich sei, um die finanzielle Stabilität der
Krankenkassen zu sichern. Eine solche Rechtfertigung scheide nur aus, wenn gezeigt werde, dass
das System offensichtlich unverhältnismäßig sei, die Fähigkeit der Krankenkassen zu sichern,
ihre im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Aufgaben unter finanziell stabilen
Bedingungen zu erfüllen.
Hinweis: Nach Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts treten die Richter des
Gerichtshofes in die Beratung ein. Das Urteil ergeht zu einem späteren Zeitpunkt.
das den Gerichtshof nicht bindet.
Dieses Dokument liegt in französischer, englischer, deutscher und niederländischer
Sprache vor.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab
ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int .
Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou, |