PRESSEMITTEILUNG N. 50/03
Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-112/00
DER UMSTAND, DASS DIE ÖSTERREICHISCHEN BEHÖRDEN EINE
FRIEDLICHE VERSAMMLUNG VON BESCHRÄNKTER DAUER AUF DER
BRENNER-AUTOBAHN NICHT UNTERSAGTEN, LÄUFT DEM
GEMEINSCHAFTSRECHT NICHT ZUWIDER
Die Entscheidung der Behörden beruhte auf Gründen der Achtung der Meinungsäußerungs-
und Versammlungsfreiheit, und es waren Rahmen- und Begleitmaßnahmen getroffen worden,
durch die schwerwiegende Störungen des innergemeinschaftlichen Handels vermieden
werden konnten.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass der freie Warenverkehr einer der tragenden Grundsätze der Gemeinschaft ist und dass alle dahin gehenden Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten beseitigt werden sollen. Hat ein Mitgliedstaat nicht die geeigneten
Maßnahmen ergriffen, um gegen Beeinträchtigungen des innergemeinschaftlichen
Handelsverkehr einzuschreiten, selbst wenn diese nicht auf den Staat, sondern auf
Handlungen von Privatpersonen zurückgehen, kann er haftbar gemacht werden, wie dies
1997 bei Frankreich1 der Fall war.
Dieser Verpflichtung kommt besondere Bedeutung zu, wenn es um eine wichtige
Straßenverbindung wie die Brenner-Autobahn geht, die eine der Hauptverbindungen zwischen
Nordeuropa und Norditalien ist. Der Umstand, dass Österreich eine Versammlung, die zu
einer nahezu 30-stündigen Blockade dieser Autobahn führte, nicht untersagte, kann daher
eine Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs darstellen und ist
grundsätzlich mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, sofern er nicht objektiv gerechtfertigt
werden kann.
Bei der Prüfung, ob diese Behinderung des freien Warenverkehrs gerechtfertigt werden kann, ist
das Ziel zu berücksichtigen, das die nationalen Stellen mit der Genehmigung der Versammlung
verfolgten: hier das der Achtung der Grundrechte der Demonstranten auf Meinungsäußerungs-
und Versammlungsfreiheit, die durch die österreichische Verfassung und die Europäische
Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Wahrung der Gerichtshof sichert, gewährleistet sind.
Nach Auffassung des Gerichtshofes sind in einer solchen Situation die betroffenen Interessen -
Schutz der Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit und Wahrung des freien
Warenverkehrs - abzuwägen, und es ist anhand der Umstände des zu prüfenden Einzelfalls
festzustellen, ob das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt worden ist.
Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die vorliegende Situation in keiner Weise mit derjenigen
vergleichen lässt, die Gegenstand der 1997 erfolgten Verurteilung Frankreichs wegen
Vertragsverletzung war. Im Gegenteil übten die Demonstranten friedlich und auf rechtmäßige
Weise ihre Meinungsäußerungs- und Versammlungsrecht aus, sie achteten darauf, die
betroffenen Benutzer beiderseits der Grenze rechtzeitig zu warnen, und sie blockierten nur eine
einzige Strecke, ein einziges Mal und für eine beschränkte Dauer, was es den österreichischen
Behörden ermöglichte, ihrerseits die Information weiterzugeben und Begleitmaßnahmen zu
treffen, um die Störungen des Straßenverkehrs möglichst gering zu halten (z. B. durch
Bereitstellung von Ausweichstrecken). Die nationalen Stellen konnten daher angesichts des
weiten Ermessens, das ihnen auf diesem Gebiet zusteht, vernünftigerweise annehmen, dass das
mit der Versammlung in legitimer Weise verfolgte Ziel nicht durch Maßnahmen erreicht werden
konnte, die den innergemeinschaftlichen Handel weniger beschränkt hätten. Der Gerichtshof
erkennt daher für Recht, dass die Genehmigung dieser Versammlung das rechte
Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Grundrechte der Demonstranten und den
Erfordernissen des freien Warenverkehrs wahrt. Daher kann den österreichischen Behörden
kein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vorgeworfen werden, der geeignet wäre, die Haftung des
betreffenden Mitgliedstaats auszulösen.
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Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou,
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1 - Urteil vom 9. Dezember 1997 in der Rechtssache C-265/95 (Kommission/Frankreich) und Pressemitteilung Nr. 76/97.