Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG N. 60/03


10. Juli 2003

Urteil des Gerichtshofes in den verbundenen Rechtssachen C-20/00 und C-64/00

Vorabentscheidungsersuchen: Booker Aquaculture Ltd und Hydro Seafood GSP Ltd gegen The Scottish Ministers

KEINE AUTOMATISCHE ENTSCHÄDIGUNG FÜR FISCHZÜCHTER, DIE AUFGRUND DES GEMEINSCHAFTSRECHTS VERPFLICHTET WAREN, IHRE VON EINER ANSTECKENDEN KRANKHEIT BEFALLENEN BESTÄNDE ZU VERNICHTEN

Eine Gemeinschaftsrichtlinie und nationale Umsetzungsmaßnahmen, die keine Entschädigung für die Eigentümer infizierter Fische vorsehen, verletzen das Recht auf Eigentum nicht, wenn sie dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und keinen unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der dieses Recht in seinem Wesensgehalt antastet.


Zwei Gemeinschaftsrichtlinien dienen der Kontrolle bestimmter Fischseuchen. Eine Richtlinie von 1991 enthält ein Seuchenverzeichnis, in dem u. a. die infektiöse Anämie der Salmonide (IAS) und die virale hämorrhagischen Septikämie (VHS) aufgeführt sind.

Bei Ausbruch dieser Seuchen sind nach einer Richtlinie von 1993 unter bestimmten Umständen alle Fische in den betroffenen Betrieben zu töten und zu vernichten, mit Ausnahme - unter bestimmten Voraussetzungen - von Fischen, die Vermarktungsgröße erreicht haben und keinerlei klinische Krankheitsanzeichen aufweisen. Diese können für den menschlichen Verzehr vermarktet werden, nachdem sie geschlachtet und ausgenommen worden sind.

Es gibt keine Vorschrift, die eine Entschädigung der Eigentümer der von der IAS und der VHS betroffenen Aquakulturbetriebe vorsieht.

Im Vereinigten Königreich sind die Gemeinschaftsvorschriften durch Regulations von 1992 und 1994 umgesetzt worden.

In zwei schottischen Aquakulturbetrieben brachen Fischseuchen aus: 1994 bei Booker Aquaculture (VHS) und 1998 bei Hydro Seafood (IAS). Die beiden Betriebe mussten in Durchführung ministerieller Bescheide die Fische vernichten, die noch nicht Vermarktungsgröße erreicht hatten, und die Fische, die diese Größe schon erreicht hatten, nach dem Ausnehmen vorzeitig vermarkten. Sowohl Booker als auch Hydro forderten von den schottischen Behörden eine Entschädigung für die erlittenen Verluste. Diese Forderungen wurden zurückgewiesen.

Die beiden Unternehmen erhoben Klagen gegen den Staat. Der mit den Rechtssachen befasste Court of Session hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gefragt, ob das Recht auf Eigentum eine Entschädigung der Züchter verlangt, deren Fische nach der Richtlinie von 1993 vernichtet wurden.

Vorab stellt der Gerichtshof fest, dass sich ein Entschädigungsanspruch der Eigentümer, deren Fische vernichtet wurden, weder aus dem Sinn und Zweck noch aus dem Wortlaut der Richtlinie 93/53 ergebe. Es sei daher zu prüfen, ob die Richtlinie bei Fehlen einer Entschädigungsregelung mit dem Grundrecht auf Eigentum vereinbar sei.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Grundrechte nicht schrankenlos gewährleistet, sondern im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen seien. Die Ausübung eines Grundrechts könne Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprächen und nicht einen unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellten, der dieses Recht in seinem Wesensgehalt antaste.

Der Gerichtshof prüft den Zweck der in Rede stehenden Gemeinschaftsvorschriften und stellt fest, dass dieser darin liege, die Entwicklung des Aquakultursektors sicherzustellen und tierseuchenrechtliche Vorschriften in diesem Bereich auf Gemeinschaftsebene zu erlassen. In diesem Zusammenhang solle die Richtlinie von 1993 bei Verdacht auf Ausbruch einer Seuche sofortige Bekämpfungsmaßnahmen und Verbringungskontrollen für Fische, die Träger von Krankheitserregern sein könnten, ermöglichen. Der Gerichtshof folgert daraus, dass die Maßnahmen, zu denen diese Richtlinie verpflichte, tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprächen.

Zur Frage, ob die Beschränkungen einen unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, merkt der Gerichtshof zunächst an, dass die von der Richtlinie von 1993 vorgeschriebenen Maßnahmen Dringlichkeitsmaßnahmen seien, um jedes Risiko der Verbreitung der Krankheiten auszuschließen. Sodann bewirkten diese Maßnahmen nicht, dass den Inhabern der Zuchtbetriebe deren Nutzung entzogen werde, sondern dass die weitere Ausübung ihrer Tätigkeit dadurch gefördert werde, dass ihnen die schnellstmögliche Wiederbestockung der betroffenen Zuchtanlagen ermöglicht werde. Schließlich berge die Aquakultur geschäftliche Risiken, wie z. B. den Ausbruch von Seuchen. Darüber hinaus könne der Gemeinschaftsgesetzgeber zwar die Auffassung vertreten, dass die Entschädigung der Eigentümer von Fischen, die vernichtet wurden, unter gewissen Umständen angebracht sei; daraus könne jedoch nicht abgeleitet werden, dass es einen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz gäbe, der in jedem Fall zur Gewährung einer Entschädigung verpflichtete.

Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die in der Richtlinie von 1993 zur Bekämpfung der Fischseuchen vorgesehenen Maßnahmen bei Fehlen einer Entschädigung für die betroffenen Eigentümer keinen unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der den Wesensgehalt des Eigentumsrechts antaste.

Die Durchführung dieser keine Entschädigung vorsehenden Seuchenbekämpfungsmaßnahmen durch einen Mitgliedstaat stellt aus denselben Erwägungen keine Verletzung des Eigentumsrechts dar.


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das den Gerichtshof nicht bindet.

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