Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 78/03

30. September 2003

Urteil des Gerichts erster Instanz in den Rechtssachen T-191/98, T-212/98, T-213/98 und T-214/98

Atlantic Container Line u. a. / Kommission

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ HEBT GELDBUSSEN IN REKORDHÖHE VON 273 MILLIONEN EURO AUF, DIE DIE KOMMISSION GEGEN IN EINER KONFERENZ ZUSAMMENGESCHLOSSENE LINIENREEDEREIEN WEGEN MISSBRAUCHS EINER KOLLEKTIVEN BEHERRSCHENDEN STELLUNG VERHÄNGT HATTE

Die Aufhebung erfolgt zum Teil wegen mangelnder Beweise und Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte, zum Teil wegen des aufgrund der Anmeldung des Trans-Atlantic Conference Agreement (TACA) bei der Kommission bestehenden Schutzes vor Geldbußen.Das Gericht bestätigt außerdem die Weigerung der Kommission, das von ihr beanstandete TACA freizustellen



Eine Linienkonferenz ist eine Gruppe von Unternehmen der Seeschifffahrt, die internationale Liniendienste für die Beförderung von Ladung in einem bestimmten Fahrtgebiet zur Verfügung stellt und auf der Grundlage einheitlicher oder gemeinsamer Frachtraten arbeitet. Das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften verkündet heute ein Urteil, das eine Reihe von bei ihm anhängigen Verfahren beendet, in denen es um die Rechtmäßigkeit der Geschäftspraktiken von Linienkonferenzen im Hinblick auf die in einer Gemeinschaftsverordnung von 1986 festgelegten Durchführungsvorschriften zu den Wettbewerbsregeln geht.

Im Jahr 1994 trafen fünfzehn Linienreedereien, die ursprünglich an einer Absprache über den transatlantischen Linienverkehr zwischen Nordeuropa und den Vereinigten Staaten, dem Trans-Atlantic Agreement (TAA), beteiligt waren, nach dessen Verbot durch die Kommission eine neue Vereinbarung zur Errichtung einer Linienkonferenz, das Trans-Atlantic Conference Agreement (TACA), das sich auf denselben Seeverkehr bezieht. Zwei weitere Reedereien, Hanjin und Hyundai, schlossen sich der Konferenz Ende 1994 und im Jahr 1995 an. Die Vereinbarung enthielt zum Teil Bestimmungen, die geeignet waren, gegen die Gemeinschaftsvorschriften über wettbewerbsbeschränkende Absprachen zu verstoßen. Diese Bestimmungen betrafen die Preise für den transatlantischen Seetransport im engeren Sinne, die Preise für den Landtransport im Rahmen des multimodalen Verkehrs in der Gemeinschaft, die Bedingungen und die inhaltliche Gestaltung von Servicekontrakten mit den Verladern sowie die Vergütung der in bestimmten Fällen tätigen Spediteure.

Das Gericht bestätigt die von der Kommission festgestellten Verstöße des TACA gegen die Vorschriften über wettbewerbsbeschränkende Absprachen und die Weigerung, den konferenzgebundenen Reedereien eine Freistellung zu gewähren

Um eine Freistellung dieser wettbewerbsbeschränkenden Bestimmungen zu erwirken, wurde das TACA bei der Kommission angemeldet, die die Voraussetzungen nicht für erfüllt hielt, die Freistellung deshalb ablehnte und, ohne Geldbußen zu verhängen, den TACA-Parteien aufgab, diese erste Reihe von Zuwiderhandlungen abzustellen (mit Ausnahme der Festsetzung der Preise für den Seetransport).

Das Gericht bestätigt im Wesentlichen den missbräuchlichen Charakter der von der Kommission im Zusammenhang mit den Servicekontrakten festgestellten Beschränkungen (erster Missbrauchstatbestand), erklärt aber den Teil der Entscheidung, der sich auf die für den Beitritt von Wettbewerbern zur Konferenz geschaffenen Anreize bezieht (zweiter Missbrauchstatbestand), wegen mangelnder Beweise und Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte für nichtig.

Nach Ansicht der Kommission hatten die TACA-Parteien zwischen 1994 und 1996 eine zweite Reihe von Zuwiderhandlungen aufgrund des Missbrauchs einer kollektiven beherrschenden Stellung auf dem Markt für containerisierten Seefrachttransport zwischen Nordeuropa und den Vereinigten Staaten begangen.

Der erste Missbrauchstatbestand betraf laut Kommission bestimmte Beschränkungen der Verfügbarkeit und inhaltlichen Gestaltung von Servicekontrakten (insbesondere wurde konferenzgebundenen Reedereien der Abschluss individueller Kontrakte untersagt; außerdem wurden bereits 1996 Mehrfachkontrakte und Contingency-Klauseln in individuellen Servicekontrakten verboten).

Der zweite Missbrauchstatbestand bezog sich auf Maßnahmen, mit denen für potenzielle Wettbewerber Anreize geschaffen werden sollten, dem TACA beizutreten, anstatt als Unabhängige am Transatlantikverkehr teilzunehmen.

Die Kommission verbot diese beiden Formen missbräuchlichen Verhaltens und verhängte gegen die fünfzehn Konferenzreedereien Geldbußen von insgesamt 273 Millionen Euro und damit die bislang höchsten Geldbußen gegen Unternehmen mit einer kollektiven beherrschenden Stellung (siehe Übersicht in der Anlage). Die wegen des zweiten Missbrauchstatbestands verhängten Geldbußen machten ungefähr 90 % des Gesamtbetrags der Geldbußen aus.

Das Gericht bestätigt die Wettbewerbswidrigkeit der von der Kommission dem ersten Missbrauchstatbestand zugeordneten Praktiken; davon ausgenommen ist der Austausch von Informationen zwischen Konferenzreedereien, den das Gericht nicht als missbräuchlich angesehen hat, weil die betreffenden Daten in den Vereinigten Staaten allgemein zugänglich waren.

Da das TACA mit seinen möglicherweise missbräuchlichen Beschränkungen bei der Kommission angemeldet worden war, stellt das Gericht außerdem fest, dass die Vorschriften der Verordnung von 1986 über den Schutz vor Geldbußen gelten und die Unternehmen vor etwaigen finanziellen Sanktionen schützen. Das Gericht hebt daher die auf der Grundlage dieser Verordnung festgesetzten Geldbußen auf.

Was die Regelung des Landtransports in den Servicekontrakten über Beförderungen im Rahmen des multimodalen Verkehrs betrifft, für die der Schutz vor Geldbußen nicht gilt, so sieht das Gericht das kooperative Verhalten der betreffenden Reedereien und die rechtliche Unsicherheit hinsichtlich der Einstufung als Missbrauch und der etwaigen Sanktionen als mildernde Umstände an, die es rechtfertigen, von einer Verhängung von Geldbußen abzusehen.

Der zweite Missbrauchstatbestand, den die Kommission beanstandet hat, betrifft zwei Arten von Maßnahmen, durch die Anreize zum Konferenzbeitritt geschaffen werden sollten:

1.Maßnahmen speziell für bestimmte Konkurrenzreedereien (z. B. Mitteilung vertraulicher Informationen, Versprechen von Marktanteilen und sofortiger Beteiligung an den laufenden Servicekontrakten der Konferenz);

2.allgemeinere Maßnahmen für alle Wettbewerber (Abschluss von Servicekontrakten mit günstigeren Raten und Überlassen bestimmter Servicekontrakte).

Das Gericht gelangt zu dem Schluss, dass die Kommission nicht nachgewiesen habe, dass die speziellen Maßnahmen und nicht eigene wirtschaftliche Erwägungen die beiden einzigen Reedereien, die sich zwischen 1994 und 1996 der Konferenz anschlossen Ԁ Hanjin und Hyundai Ԁ zum Beitritt veranlasst hätten. Außerdem habe die Kommission die Verteidigungsrechte verletzt, da sie den TACA-Parteien keine Gelegenheit gegeben habe, sich zu der von ihr beabsichtigten Auslegung der Unterlagen zu äußern, auf die sie ihre Rügen bezüglich der speziellen Maßnahmen gestützt habe. Da diese Unterlagen der einzige Beweis für die speziellen Maßnahmen seien, seien Letztere nicht rechtswirksam nachgewiesen worden.

Was die allgemeinen Maßnahmen angehe, so habe die Kommission rechtlich nicht hinreichend dargetan, dass sie als Anreiz gewirkt hätten, da sie als solche nicht zu einem tatsächlichen Beitritt von Wettbewerbern geführt hätten.

Das Gericht erklärt deshalb die Entscheidung der Kommission für nichtig, soweit darin den TACA-Parteien vorgeworfen wird, sie hätten missbräuchlich die Marktstruktur verändert, und hebt den Teil der Geldbußen auf, der auf der Grundlage des zweiten Missbrauchstatbestands berechnet wurde.

ANLAGE
Von der Kommission verhängte und vom Gericht aufgehobene Geldbußen der einzelnen TACA-Reedereien

TACA-REEDEREI  
LAND   GELDBUSSE
(ECU = Euro)  
A.P. MøllerMaersk Line  
DK  
27 500 000  
Atlantic Container Line AB  
S  
6 880 000  
Hapag Lloyd Container Line GmbH  
D  
20 630 000  
P&O Nedlloyd Container Line Limited (Fusion nach der entscheidungserheblichen Zeit)  
UK  
41 260 000  
Sea-Land Service, Inc  
USA  
27 500 000  
Mediterranean Shipping Co  
CH  
13 750 000  
Orient Overseas Container Line (UK) Ltd  
UK  
20 630 000  
Polish Ocean Lines  
PL  
6 880 000  
DSR-Senator Lines  
D  
13 750 000  
Cho Yang Shipping Co., Ltd  
Südkorea  
13 750 000  
Neptune Orient Lines Ltd  
Singapur  
13 750 000  
Nippon Yusen Kaisha  
Japan  
20 630 000  
Transportación Marítima Mexicana SA de CV/Tecomar SA de CV (Fusion vor der entscheidungserheblichen Zeit)  
Mexiko  
6 880 000  
Hanjin Shipping Co., Ltd  
Südkorea  
20 630 000  
Hyundai Merchant Marine Co., Ltd  
Südkorea  
18 560 000  
INSGESAMT
 
 
272 980 000
 

Hinweis: Gegen die Entscheidung des Gerichts kann binnen zwei Monaten nach ihrer Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingelegt werden.


Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nicht amtliches Dokument, das das Gericht erster Instanz nicht bindet.

Verfügbare Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Dänisch

Den vollständigen Wortlaut des Urteils finden Sie heute ab ca. 12.00 MEZ auf unserer Homepage (www.curia.eu.int ).

Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou,
Tel.: (00352) 4303 3255; Fax: (00352) 4303 2734
 

Urteile T-395/94 (Atlantic Container Line u. a./Kommission, Slg. 2002, II-885), T-86/95 (Compagnie générale maritime u. a./Kommission, Slg. 2002, II-1011), T-213/00 (CMA CGM u. a./Kommission, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), T-18/97 (Atlantic Container Line u. a./Kommission, Slg. 2002, II-1125) und Beschluss T-224/99 (European Council of Transport Users/Kommission, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).
Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 des Rates vom 22. Dezember 1986 über die Einzelheiten der Anwendung der Artikel 85 und 86 des Vertrages auf den Seeverkehr (ABl. L 378, S. 4).
Bei Verträgen über Beförderungen von Haus zu Haus können zum Seeweg weitere Transportarten hinzukommen (Straße, Schiene usw.).
Entscheidung 1999/243/EG vom 16. September 1998 (TACA-Entscheidung).
Verordnung Nr. 4056/86 (siehe Fußnote 2).