Abteilung Presse und Information
PRESSEMITTEILUNG NR. 79/03
30. September 2003
Urteil des Gerichtshofes in dem Vorabentscheidungsverfahren C-224/01
Gerhard Köbler/Republik Österreich
MITGLIEDSTAATEN HAFTEN FÜR SCHÄDEN, DIE EINEM EINZELNEN DURCH EINEN EINEM LETZTINSTANZLICHEN GERICHT ZUZURECHNENDEN
VERSTOSS GEGEN DAS GEMEINSCHAFTSRECHT ENTSTANDEN SIND, WENN DER VERSTOSS OFFENKUNDIG IST
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, mit der die Beschwerde von Herrn Köbler abgewiesen worden
ist, stellt keinen offenkundigen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht dar und begründet daher nicht die
Haftung des österreichischen Staates
Im Anschluss an die Ablehnung seines Antrags legte Herr Köbler bei einem österreichischen
Verwaltungsgericht Beschwerde ein und machte geltend, dass ein solches Erfordernis eine mittelbare Diskriminierung
darstelle, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße.
Diese Frage machte der Verwaltungsgerichtshof )- das letztinstanzlich entscheidende Verwaltungsgericht -) beim Gerichtshof
der Europäischen Gemeinschaften anhängig. Im Anschluss an ein Urteil des Gerichtshofes in einer
ähnlichen Rechtssache1 nahm das österreichische Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen zurück. Mit Urteil vom 24.
Juni 1998 wies der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde von Herrn Köbler mit der Begründung
ab, die besondere Dienstalterszulage stelle eine Treueprämie dar, die eine Abweichung von den
Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer rechtfertige.
Herr Köbler erhob beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien Schadensersatzklage gegen die Republik Österreich
mit der Begründung, dass das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Hierzu hat
das vorlegende Gericht dem Gerichtshof Fragen gestellt.
Die Mitgliedstaaten sind zum Ersatz der Schäden verpflichtet, die den Einzelnen durch den
nationalen letztinstanzlichen Gerichten zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass er bereits entschieden habe2, dass die
Mitgliedstaaten nach dem Wesen des EG-Vertrags zum Ersatz von Schäden verpflichtet seien, die
dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstünden, unabhängig davon,
welches mitgliedstaatliche Organ den Verstoß begangen habe.
Die entscheidende Rolle, die die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund des
Gemeinschaftsrechts zustehenden Rechte spiele, würde nämlich gemindert, wenn der Einzelne nicht unter bestimmten
Voraussetzungen Ersatz der Schäden verlangen könnte, die durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht
entstünden, der einem letztinstanzlichen Gericht eines Mitgliedstaats zuzurechnen sei. In diesem Fall müsse
der Einzelne den Staat haftbar machen können, um einen gerichtlichen Schutz seiner Rechte
zu erlangen.
In ständiger Rechtsprechung hat der Gerichtshof drei Voraussetzungen aufgestellt, die erforderlich und ausreichend
seien, um die Haftung des Staates für ihm zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht
zu begründen. Diese Voraussetzungen gälten auch, wenn ein nationales letztinstanzliches Gericht eine Gemeinschaftsrechtsnorm
verletze:
1. Die verletzte Rechtsnorm bezwecke, dem Einzelnen Rechte zu verleihen,
2. der Verstoß sei hinreichend qualifiziert, und
3. zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem entstandenen Schaden
bestehe ein Kausalzusammenhang.
Bei der Entscheidung darüber, ob der Verstoß hinreichend qualifiziert sei, müsse das zuständige
nationale Gericht, wenn sich der Verstoß aus der Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts
ergebe, in Anbetracht der Besonderheit der richterlichen Funktion prüfen, ob dieses Gericht offenkundig
gegen das geltende Recht verstoßen habe. Der Staat hafte nur in dem Ausnahmefall,
dass das nationale Gericht das geltende Recht und die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes
offenkundig verkannt habe.
Es sei Sache der einzelnen Mitgliedstaaten nach ihren internen Rechtsordnungen zu bestimmen, welches
Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten über diesen Anspruch zuständig sei.
Die österreichischen Rechtsvorschriften über die Zuerkennung der besonderen Dienstalterszulage für Universitätsprofessoren verstößt gegen
Gemeinschaftsrecht und kann nicht gerechtfertigt werden.
Der Gerichtshof stellt fest, dass das österreichische Gesetz, das für die Gewährung der
besonderen Zulage für Universitätsprofessoren eine fünfzehnjährige, ausschließlich an österreichischen Universitäten erworbene Berufserfahrung verlange,
eine nach dem EG-Vertrag verbotene Behinderung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstelle.
Der Gerichtshof führt zum ersten Mal aus, dass das Ziel der Bindung der
Arbeitnehmer an ihre Arbeitgeber (Treueprämie) zwar grundsätzlich durch Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden
könne, dass die österreichische Maßnahme jedoch Beeinträchtigungen verursache, die nicht mit diesem Ziel
gerechtfertigt werden könnten. Sie führe nämlich zu einer Abschottung des Arbeitsmarkts für Universitätsprofessoren
in Österreich und widerspreche dem Wesen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer.
Nach Ansicht des Gerichtshofes hat das österreichische letztinstanzliche Gericht keinen offenkundigen und damit
keinen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begangen, so dass der österreichische Staat
nicht hafte.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes prüften grundsätzlich die nationalen Gerichte, ob die Kriterien
für die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das
Gemeinschaftsrecht entstanden seien, erfüllt seien. In dieser Rechtssache verfüge der Gerichtshof jedoch über
alle Angaben, um die erforderlichen Voraussetzungen zu prüfen.
Nach Ansicht des Gerichtshofes beruht das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 1998
auf einer irrigen Auslegung des Urteils Schöning-Kogebetepoulou und stellt einen Verstoß gegen das
Gemeinschaftsrecht dar. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass der Verstoß an sich nicht
als offenkundig eingestuft werden könne.
Der Gerichtshof weist nämlich darauf hin, dass er sich noch nicht zu einer
etwaigen Rechtfertigung einer Maßnahme zur Bindung eines Arbeitnehmers an seinen Arbeitgeber (Treueprämie) im
Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht geäußert habe. Demnach habe die Antwort nicht auf der
Hand gelegen.
Zum anderen könne eine solche Einstufung auch nicht darauf gestützt werden, dass der
Verwaltungsgerichtshof sein Vorabentscheidungsersuchen hätte aufrechterhalten müssen. Aufgrund seiner irrigen Auslegung des Urteils des
Gerichtshofes habe er es nicht für erforderlich gehalten, sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten.
das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument ist in folgenden Sprachen verfügbar: alle Amtssprachen. Den vollständigen Wortlaut des Urteils finden Sie heute ab ca. 12.00 Uhr MEZ auf unserer Homepage (www.curia.eu.int ). Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou, Tel: (00352) 4303 3255, Fax: (00352) 4303 2734. |