Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG N1 99/03

13. November 2003

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-313/01

Christine Morgenbesser/Consiglio dell' Ordine degli Avvocati di Genova

DIE ITALIENISCHEN BEHÖRDEN DÜRFEN DEM INHABER EINER IN EINEM ANDEREN MITGLIEDSTAAT ERWORBENEN "MAÎTRISE EN DROIT" DIE EINTRAGUNG IN DAS REGISTER DER "PRATICANTI" NICHT VERWEIGERN

Der Aufnahmemitgliedstaat muss die Diplome unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen vergleichen und vom Betroffenen eventuell den Nachweis verlangen, dass er die fehlenden Kenntnisse erworben hat




Frau Morgenbesser, eine französische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Italien, ist Inhaberin eines im Jahre 1996 in Frankreich verliehenen Studienabschlusses (`maîtrise en droitA), hat aber nicht den Befähigungsnachweis für den Beruf des Rechtsanwalts (CAPA) erworben. Nach einer kurzen Stage in einer Kanzlei französischer Rechtsanwälte arbeitete sie seit 1998 in einer Rechtsanwaltskanzlei in Genua. Sie beantragte die Eintragung in das Berufsregister der Rechtsanwaltsanwärter (`registro dei praticantiA), die im Hinblick auf die Prüfung der Eignung für die Berufsausübung in Italien erforderlich ist, damit die Zeit der praktischen Ausbildung ordnungsgemäß absolviert werden kann.

Ihr Antrag wurde vom Vorstand der Rechtsanwaltskammer Genua sowie vom Consiglio Nazionale Forense abgelehnt, weil das italienische Gesetz über den Beruf des avvocato (Rechtsanwalt) den Besitz eines von einer italienischen Universität verliehenen oder bestätigten Diploms der Rechtswissenschaft vorsieht und sie nicht berechtigt war, in Frankreich den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben.

Die Corte suprema di cassazione hat den Gerichtshof daher gefragt, ob es nach Gemeinschaftsrecht zulässig ist, dass die italienischen Behörden dem Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms der Rechtswissenschaft die Eintragung nur deshalb verweigern dürfen, weil dieses Diplom nicht in Italien ausgestellt wurde.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass weder die Richtlinie 98/5 über die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs noch die Richtlinie 89/48 über die Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Ausbildung für reglementierte Berufe abschließen, auf die Situation von Frau Morgenbesser Anwendung findet, da die erstgenannte Richtlinie nur die voll qualifizierten Rechtsanwälte betrifft und die Tätigkeit eines `praticanteA Ԁ die zeitlich begrenzt ist und den praktischen Teil der für die Zulassung zum Beruf des Rechtsanwalts erforderlichen Ausbildung darstellt Ԁ nicht als reglementierter Beruf im Sinne der Richtlinie 89/48, der sich vom Beruf des Rechtsanwalts trennen ließe, eingestuft werden kann.

Da die Zeit der praktischen Ausbildung Ԁ im Hinblick auf die Aufnahme eines reglementierten Berufes Ԁ die Ausübung von Tätigkeiten umfasst, die (von den Mandanten oder von der Rechtsanwaltskanzlei in Form von Honoraren bzw. eines Gehalts) vergütet werden, sind die im Vertrag verankerten Grundsätze über die Niederlassungsfreiheit oder über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer anwendbar.

Der Gerichtshof erinnert daher an die in seiner eigenen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze: Wenn nach den nationalen Vorschriften die von dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats außerhalb des Aufnahmestaats bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt bleiben, sind die Ausübung des Niederlassungsrechts und die Inanspruchnahme der Freizügigkeit beeinträchtigt.

Das Diplom der Betroffenen muss im Rahmen einer Gesamtbeurteilung der akademischen und beruflichen Ausbildung berücksichtigt werden. Die italienische Behörde hat daher zu prüfen, ob und inwieweit die durch das Diplom bescheinigten Kenntnisse und die in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Fähigkeiten oder gewonnene Berufserfahrung zusammen mit der in Italien gewonnenen Erfahrung die für die Aufnahme der Tätigkeit eines `praticanteA erforderlichen Voraussetzungen Ԁ und sei es auch teilweise Ԁ erfüllen können.

Im Falle des Anwaltsberufs muss ein Mitgliedstaat eine vergleichende Prüfung der Diplome unter Berücksichtigung der festgestellten Unterschiede zwischen den betroffenen nationalen Rechtsordnungen vornehmen. Ergibt der Vergleich, dass diese einander nur teilweise entsprechen, so kann der Aufnahmestaat von dem Betroffenen den Nachweis verlangen, dass er die fehlenden Kenntnisse erworben hat. Die zuständigen Behörden des Aufnahmestaats müssen daher beurteilen, ob die in diesem Staat erworbenen Kenntnisse und gewonnene Erfahrung für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen.




Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

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Den vollständigen Wortlaut des Urteils finden Sie heute ab ca. 12.00 Uhr MEZ auf unserer Homepage (www.curia.eu.int ).

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Isabelle Phalippou,
Tel: (00352) 4303 3255, Fax: (00352) 4303 2734.
 


Ԁ     Regio Decreto Legge Nr. 1578 von 1993.