Abteilung Presse und Information
PRESSEMITTEILUNG N° 26/04
1. April 2004
Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-263/02 P
Kommission der Europäischen Gemeinschaften / Jégo-Quéré et Cie SA
DER GERICHTSHOF HAT SEINE RECHTSPRECHUNG ZU DEN VORAUSSETZUNGEN, UNTER DENEN EIN EINZELNER KLAGE
AUF NICHTIGERKLÄRUNG EINER GEMEINSCHAFTSVERORDNUNG ERHEBEN KANN, BESTÄTIGT
Der Gerichtshof hebt das Urteil des Gerichts erster Instanz auf, mit dem eine
derartige Klage für zulässig erklärt worden ist und das für die Kontrolle der
Rechtmäßigkeit solcher Gemeinschaftshandlungen mit allgemeiner Geltung bestehende System in Frage gestellt wurde
Mit Urteil vom 3. Mai 2002 hat das Gericht die Klage für zulässig
erklärt und dadurch mit einer Rechtsprechung gebrochen, wonach eine natürliche oder juristische Person
eine Handlung allgemeiner Geltung nur dann anfechten kann, wenn diese Handlung sie wegen
bestimmter besonderer Eigenschaften oder aufgrund von Umständen betrifft, die sie aus dem Kreis
aller übrigen Personen herausheben. Diese Lockerung der Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen
einzelner Personen hat das Gericht mit der Notwendigkeit begründet, diesen Einzelnen einen wirksamen
gerichtlichen Rechtsschutz, den das nationale Recht nicht ermögliche, zu gewährleisten. Das Gericht hat
für die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit folgende neue Definition aufgestellt: Die Gemeinschaftsbestimmung muss
den Einzelnen in seiner Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigen, indem sie seine Rechte
einschränkt oder ihm Pflichten auferlegt.
Die Kommission hat gegen dieses Urteil beim Gerichtshof ein Rechtsmittel eingelegt, weil sie
der Ansicht war, dass das Gericht die Klage für unzulässig hätte erklären müssen.
Der Gerichtshof bekräftigt erneut, dass der EG-Vertrag ein vollständiges System von Rechtsbehelfen geschaffen
hat, das den effektiven Schutz der Rechte gewährleisten soll, die die Bürger aus
der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten.
Er erinnert daran, dass der Einzelne die Möglichkeit haben muss, die Rechte geltend
zu machen, die ihm die Gemeinschaftsrechtsordnung gewährt, und einen Richter anzurufen, der über
seinen Anspruch entscheiden kann. Der EG-Vertrag hat ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und
Verfahren geschaffen, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane gewährleisten soll,
und mit dieser Kontrolle den Gerichtshof und das Gericht betraut. In diesem System
haben natürliche oder juristische Personen, die Adressaten einer sie unmittelbar und individuell betreffenden
Gemeinschaftshandlung sind, die Möglichkeit, diese Handlung vor dem Gemeinschaftsrichter mit einer Nichtigkeitsklage anzufechten.
Dagegen kann ein Einzelner nicht die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftshandlung mit allgemeiner Geltung wie
einer Verordnung unmittelbar bei den Gemeinschaftsgerichten erwirken.
Natürlichen oder juristischen Personen, die daran gehindert sind, eine Verordnung unmittelbar vor den
Gemeinschaftsgerichten anzufechten, ist damit aber nicht jede Möglichkeit eines effektiven Rechtsbehelfs genommen. Ihnen
stehen die beiden folgenden Möglichkeiten offen:
Sie können entweder, wenn sie an einem Verfahren vor dem Gemeinschaftsrichter beteiligt sind,
in dem eine solche Verordnung mittelbar in Frage gestellt wird, inzident die Rechtmäßigkeit
dieser Verordnung bestreiten,
oder sie können vor den nationalen Gerichten die Ungültigkeit dieser Verordnung geltend machen
und beantragen, den Gerichtshof anzurufen, indem sie eine Frage nach der Gültigkeit im
Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht aufwerfen.
Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass er nicht an die Stelle der
Mitgliedstaaten treten kann, die den gerichtlichen Rechtsschutz durch Systeme von Rechtsbehelfen und Verfahren
zu gewährleisten haben, die die natürlichen oder juristischen Personen in die Lage versetzen,
die Rechtmäßigkeit einer in Anwendung einer Verordnung getroffenen nationalen Maßnahme gerichtlich anzufechten. Es
fällt daher nicht in seine Zuständigkeit, in einem bei ihm anhängigen Verfahren auf
Nichtigerklärung einer Verordnung zu prüfen, ob dieser Schutz effektiv gewährleistet ist, und, wenn
dies nicht der Fall ist, die Zulässigkeit der Klage des Einzelnen zu bejahen.
Dies würde dazu führen, dass der Gemeinschaftsrichter das nationale Verfahrensrecht auslegt und damit
seine Befugnisse überschreitet.
Der Gerichtshof fügt hinzu, dass die Tatsache, dass die fragliche Verordnung unmittelbar, d. h.
ohne Tätigwerden der nationalen Behörden, gilt, als solche nicht bedeutet, dass ein von
der Verordnung unmittelbar betroffener Wirtschaftsteilnehmer deren Gültigkeit erst dann in Zweifel ziehen kann,
wenn er gegen sie verstoßen hat. Denn es ist nicht auszuschließen, dass ein
solcher Wirtschaftsteilnehmer auf nationaler Ebene bei den zuständigen nationalen Behörden eine sich auf
diese Verordnung beziehende Maßnahme beantragen kann, die er vor dem nationalen Gericht anfechten
und dadurch die fragliche Verordnung mittelbar beanstanden kann.
Zwar sind bei der Auslegung des Begriffes der "individuell betroffenen Person" die verschiedenen
Umstände zu berücksichtigen, die einen Kläger individualisieren können; doch kann eine solche Auslegung
nicht zum Wegfall dieser ausdrücklich im Vertrag vorgesehenen Voraussetzung führen. Der Gemeinschaftsrichter würde
auch in diesem Fall seine Befugnis überschreiten.
Aufgrund dieser Erwägungen hat der Gerichtshof das Urteil des Gerichts vom 3. Mai
2002 aufgehoben und die Nichtigkeitsklage der Firma Jégo-Quéré et Cie für unzulässig erklärt.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument ist in folgenden Sprachen verfügbar: DE, EN und FR Den vollständigen Wortlaut des Urteils finden Sie heute ab ca. 12.00 Uhr MEZ auf unserer Homepage (www.curia.eu.int ). Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Isabelle Phalippou, Tel: (00352) 4303 3255, Fax: (00352) 4303 2734. |
Verordnung Nr. 1162/2001 vom 14. Juni 2001 (ABl. C 159, S. 4).